Über ganz Europa schwappt mittlerweile eine Welle von Protesten, ausgelöst durch explodierende Lebenshaltungskosten und eine drohende Rezession. Dies stellt die Entschlossenheit der Regierungen auf die Probe. Bisher waren sich diese in ihrem kostspieligen Wirtschaftskrieg mit Russland einig (WSJ, 29.10.2022).
Die Spannungen zwischen den europäischen Regierungen steigen
Die öffentlichen Proteste gegen die hohen Strom- und Heizungspreise bei sinkenden Temperaturen schüren auch die Spannungen zwischen den europäischen Hauptstädten. Ärmere Länder kritisieren mittlerweile die größeren Hilfspakete der reicheren Länder und werfen diesen eine Verzerrung des Marktes vor.
Immer mehr Menschen gehen aufgrund gestiegener Lebenshaltungskosten auf die Straße
In ganz Frankreich gingen tausende Menschen auf die Straße, um höhere Löhne zu fordern. Streikende Lehrer, Eisenbahner und Beschäftigte des Gesundheitswesens demonstrierten in Dutzenden von Städten. In Paris brachten sie den Verkehr und den öffentlichen Nahverkehr zum Erliegen.
Auch in Belgien, der Tschechischen Republik, Ungarn und Deutschland gingen in den letzten Wochen Zehntausende auf die Straße. Sie forderten Lohnerhöhungen zum Ausgleich der Inflation, mehr staatliche Unterstützung, staatliche Eingriffe in den Energiemarkt. In einigen Fällen wird mittlerweile auch das Ende der Sanktionen gegen Russland gefordert.
Protestbewegungen in Deutschland nehmen von Woche zu Woche zu
Auch in Deutschland kommt es seit Ende des Sommers zu wöchentlichen Protestkundgebungen. Laut Angaben der Brüsseler Denkfabrik Bruegel belaufen sich die Unterstützung von Haushalten und Unternehmen in Deutschland auf insgesamt 264 Milliarden Euro. Das ist das bei weitem größte Paket dieser Art in ganz Europa. Die Protestkundgebungen gehen hauptsächlich von den neuen Bundesländern im Osten aus.
Die Unterstützung der Bevölkerung für die Ukraine ist in ganz Europa nach wie vor groß. Die Proteste in Frankreich richteten sich nicht gegen die Pariser Ukraine-Politik. Die Demonstranten in Ostdeutschland waren jedoch politischer. Dort fordern einige ein Ende der westlichen Sanktionen gegen Russland.
Die Unruhen im Osten Deutschlands beruhen zum Teil auch auf alten regionalen Missständen nach der Wiedervereinigung. Jüngsten Umfragen zufolge unterstützt eine solide Mehrheit der deutschen Wähler die Russlandpolitik der Regierung von Bundeskanzler Scholz nach wie vor.
Parteien der politischen Mitte, Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen haben sich weitgehend von den Protesten gegen die Sanktionen im Osten ferngehalten. Die Alternative für Deutschland (AfD), hat jedoch von der Stimmung profitiert. Ihre Umfragewerte sind von 10 % zum Zeitpunkt des Einmarsches im Februar auf 15 % gestiegen. Das ist laut Politico der höchste Wert seit fast drei Jahren.
Die Proteste in Deutschland waren bisher zwar weit verbreitet, aber vergleichsweise klein. Dennoch haben einige gemäßigte Parteien und Gewerkschaftsführer damit begonnen, im Rest des Landes Kundgebungen zu organisieren. Dies ist ein Zeichen dafür, dass sich trotz der Hilfsmaßnahmen der Regierung wirtschaftliche Unzufriedenheit aufgrund der gestiegenen Lebenshaltungskosten breit macht.
„Dies ist lediglich die Ruhe vor dem Sturm, die Unzufriedenheit ist groß, und die Menschen haben nicht das Gefühl, dass die Regierung eine plausible Strategie zur Bewältigung der Krise hat“, sagte Manfred Güllner, Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa.
Neun Prozent der Deutschen fänden dagegen, dass Herr Scholz eine kohärente Strategie zur Bewältigung der Energiekrise hat, ergänzte Herr Güllner. Die AfD ziehe nun Wähler aller etablierten Parteien sowie traditionelle Nichtwähler an, fügte er hinzu.
„Verschiedene rechtsextreme Gruppen versuchen, auf den Kundgebungen Menschen zu rekrutieren, und das macht mir Sorgen“, sagte Georg Maier, Innenminister von Thüringen.
BASF drosselt Produktion und baut neue Produktionsstätten in China
Während staatliche Subventionen die Auswirkungen der steigenden Energiepreise auf Haushalte und kleine Unternehmen abfedern werden, haben viele Hersteller ihre Produktion wegen der steigenden Kosten gedrosselt. Der deutsche Chemieriese BASF SE erklärte, gerade, er werde seine Produktion in Europa dauerhaft drosseln. BASF will gleichzeitig neue Produktionskapazitäten in China und anderswo aufbauen.
Die deutsche Wirtschaft stehe vor einem schwierigen Winter, meint Clemens Fuest, Leiter des Ifo-Instituts, das die Regierung berät. Jedes vierte Unternehmen erwäge bereits Entlassungen. Dauerhaft hohe Energiepreise zwinge industrielle Investoren zu überlegen, ob es noch sinnvoll sei, in Europa zu investieren, so Fuest.
Macron will Maßnahmen gegen Inflation verlängern, um Proteste einzudämmen
In Frankreich versprach Präsident Emmanuel Macron, die Maßnahmen gegen die hohen Lebenshaltungskosten zu verlängern. Er erklärte, die Forderungen einiger Arbeitnehmer nach höheren Löhnen seien legitim. Laut Bruegel hat Paris 71,6 Milliarden Euro für Maßnahmen zur Begrenzung des Anstiegs der Kraftstoff-, Gas- und Strompreise ausgegeben. Dank dieser Maßnahmen ist die Inflation in Frankreich niedriger als in den USA und in den meisten europäischen Ländern. Dennoch fordern die steigenden Lebensmittelpreise ihren Tribut von Frankreichs einkommensschwachen Familien. Laut der französischen Statistikbehörde Insee lag die Inflation im September bei 6,2 %.
Umfragen zufolge unterstützen die meisten Franzosen die Sanktionen gegen Russland und die Waffenlieferungen an die Ukraine. Macron und andere europäische Politiker befürchten jedoch, dass der wirtschaftliche Stress die öffentliche Unterstützung für diese Maßnahmen oder die Regierungen, die sie unterstützen, untergraben könnte.
Krankenschwestern und andere Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, die mit der Inflation zu kämpfen haben, könnten nicht verstehen, warum die Regierung es sich nicht leisten kann, ihre Gehälter zu erhöhen, wenn sie Hunderte von Millionen Euro an militärischer Ausrüstung in die Ukraine schicken kann, sagte ein französischer Beamter.
In der vergangenen Woche gingen in ganz Frankreich mehr als 100.000 Menschen aufgrund der gestiegenen Lebenshaltungskosten auf die Straße. Sie schlossen sich den von den Raffineriearbeitern initiierten Protesten an. Die Gewerkschaften haben Raffinerien und Treibstoffdepots bestreikt, wodurch die Versorgung landesweit unterbrochen und das Raffineriesystem des Landes lahmgelegt wurde. Die Regierung schritt in diesem Monat ein, ordnete die Wiederaufnahme der Arbeit an und berief sich auf selten genutzte rechtliche Befugnisse, um die Treibstoffversorgung zu sichern.
Zwei der größten französischen Gewerkschaften, CFDT und CFE-CGC, haben sich mit Esso und TotalEnergies SE geeinigt. Die linke Gewerkschaft CGT hat jedoch die Tür zu Gesprächen zugeschlagen. Der Streik wird in zwei Raffinerien fortgesetzt und viele Tankstellen, vor allem in der Region Paris, haben weiterhin keine Vorräte. Die Gewerkschaften haben für den 10. November zu neuen landesweiten Protesten aufgerufen.
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