Die Energiekrise könnte zu Produktionsverlagerungen oder -drosselungen in Deutschland führen. Nach einer jüngeren Umfrage erwägt jedes zwölfte Industrieunternehmen, seine Produktion in Länder mit niedrigeren Energiekosten zu verlagern (Spiegel: 01.11.22).
Alarmstimmung in der Industrie wegen der Energiekrise
Der DIHK (Deutscher Industrie- und Handelskammertag) hat in seiner jüngsten Konjunkturumfrage vom 2. November 2022 eine dramatische Wirtschaftslage in Deutschland ermittelt. Laut DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben herrscht in der Industrie inzwischen Alarmstimmung. Daher drosseln viele Firmen bereits ihre Produktion oder erwägen dies (17 % der Befragten), einige planen gar Produktionsverlagerungen ins Ausland (8 %). Die Hoffnung ist groß, dass die Gaspreisbremse den Trend umkehrt, doch das wird sich erst in den nächsten Monaten herausstellen.
In der Automobilbranche ermittelte der DIHK eine besonders triste Stimmung. Wegen der exorbitant gestiegenen Energiekosten haben schon 16 % der Hersteller ihre Produktion reduziert. An Produktionsverlagerungen denken sogar 17 %. 43 % der befragten der Autobauer klagen über eine problematische Finanzlage, bei den Zulieferern liegt dieser Anteil sogar bei 49 %. Dass die Energie- und Rohstoffpreise prinzipiell zum Geschäftsrisiko geworden sind, sagen 82 % aller Manager. Laut Wansleben gab es noch bei keiner Umfrage einen Risikowert (unabhängig vom konkreten Bereich) in dieser Größenordnung.
Produktionseinschränkungen in der Industrie
Vor den Produktionsverlagerungen wegen der Energiekrise drosseln die Hersteller zunächst ihre Aktivitäten. Dies ist laut Wansleben besonders bei Industriebetrieben der Fall. Die energieintensiven Produzenten von Vorleistungsgütern sind besonders betroffen. Die Chemiebranche berichtet über Einschränkungen bei 26 % aller Betriebe, in der Kunststoffindustrie sind es 22 %. Die Automobilbranche könnte scharenweise Produktionsverlagerungen schon in den nächsten Monaten vornehmen. Darauf müsse die deutsche Wirtschaftspolitik reagieren, so der DIHK-Hauptgeschäftsführer. Die Notmaßnahme der Gaspreisbremse bezeichnete er als richtig, sie komme allerdings etwas spät. Was noch fehle, sei eine strukturelle Weichenstellung auf eine dynamischere Wirtschaftsentwicklung. Zur Energiekrise komme nämlich für Deutschland ein massives Wettbewerbsproblem hinzu. Der Standort müsse jetzt beweisen, dass er es besser könne als andere Staaten.
Wirtschaftseinbruch im kommenden Jahr erwartet
Die deutschen Betriebe erwarten im kommenden Jahr einen weiteren Wirtschaftseinbruch. 52 % der Unternehmen gehen von einem schlechteren Geschäft aus, 8 % glauben an eine Besserung, beim Rest ist die Stimmung neutral. Dieser Wert zur Stimmungslage ist der schlechteste seit 1985, dem Beginn der DIHK-Umfragen. Selbst während der Finanzmarktkrise 2008/09 und nach dem Ausbruch der Coronapandemie 2020/21 war die Stimmung nicht so eingetrübt. Der DIHK hatte seine Konjunkturerwartung schon im Frühjahr reduziert. Zwar könne das BIP im laufenden Jahr noch um 1,2 % zulegen, weil es nach dem Ende der Coronamaßnahmen einen kleinen Aufschwung gegeben habe, so Wansleben. Der kleine Wachstumsimpuls werde nun aber durch die Energiepreiskrise, die begleitende Inflation und die insgesamt trübe Weltkonjunktur abgewürgt. Es sei daher bei einem harten Winter für das Jahr 2023 eine Rezession mit einem Rückgang des BIP von ~3,0 % zu erwarten.
Gaspreisbremse gegen Produktionsverlagerungen?
Die Bundesregierung will der drohenden Deindustrialisierung mit ihrer Gaspreisbremse vorbeugen. Die Ausgestaltung für die Industrie unterscheidet sich etwas von der für private Verbraucher. Sie sieht vor, dass die Industrieverbraucher eine Deckelung des Gaspreises auf 7 ct/kWh für 70 % ihres Verbrauches in 2021 erhalten (private Verbraucher: 12 ct/kWh für 80 % des Verbrauches). Etwa 25.000 Industrieunternehmen werden ein subventioniertes Gaskontingent erhalten, wenn sie auf Produktionsverlagerungen verzichten.
Der Gasverbrauch in der Industrie ist jetzt schon deutlich gesunken, wie die Hertie School in einer Studie ermittelte. Im September 2022 wurde er durch die Betriebe temperaturbereinigt um 19 % gesenkt. Dies geht aus einem Vergleich mit dem erwartbaren Standardverbrauch hervor. Allerdings hatten die Industriebetriebe mit diesen Einsparungen schon im Herbst 2021 begonnen. Aber zuletzt stieg das Tempo der Reduktionen deutlich. In absoluten Zahlen wurden im September 2022 insgesamt 6 TWh Gas eingespart. Dies sei wahrscheinlich noch nicht das Ende der Einsparungen, sie könnten sich fortsetzen, so die Forscher.
Wie ließen sich die Produktionsverlagerungen noch stoppen?
Der DIHK-Geschäftsführer Wansleben verwies bei der Vorstellung der Umfrageergebnisse darauf, dass nicht nur die Energiekrise die Unternehmen ins Ausland treiben könnte. Auch die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen müssten sich verbessern. Neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien müsse in Deutschland mehr für den Verkehrssektor, für die Digitalisierung und beim Bürokratieabbau getan werden. Noch sei es so, dass Investoren häufig um viele Genehmigungsschritte kämpfen müssten. Gegen diese Bremsen und Blockaden wünsche man sich einen Befreiungsschlag, so der Wirtschaftsexperte.
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