Sind 100 % erneuerbare Energien vorstellbar?

Erneuerbare Energien heben das Potenzial für eine vollständige Energieversorgung, doch es gibt mehrere technisches Problem: Die Stromproduktion aus Windkraft und Solarenergie ist sehr volatil. Sie schwankt mit der Tages- und Jahreszeit sowie dem Wetter. Grundlastkraftwerke, die mit den konventionellen Energieträgern Kohle, Gas, Öl und Kernkraft betrieben werden, liefern hingegen eine konstante, regelbare Versorgung inklusive der nötigen stabilen Netzfrequenz. Mit Hochdruck arbeiten Wissenschaftler und die Industrie daran, dies auch mit erneuerbaren Energiequellen zu schaffen. (dw; 29.06.2022)


Vorhalten der Momentanreserve mit Schwungrädern

Eine technische Lösung für die Netzstabilität könnten Schwungräder bieten. Sie sind in der Lage, die sogenannte Momentanreserve im Netz aufzubauen und im Bedarfsfall wieder abzugeben. Diese Momentanreserve ist ein Potenzial an Energie, das Lastspitzen etwa morgens sehr schnell auffängt. Konventionelle Kraftwerke schaffen das durch ihre sehr gute Regelbarkeit: Ein mit Gas, Öl, Kohle oder Kernkraft betriebener Kraftwerksblock kann in seiner Leistung binnen Minuten um 20 bis 30 Prozent gesteigert oder reduziert werden. Mit Windkraft und Solarenergie ist das nicht möglich. Man denkt nun an riesige chemische Energiespeicher (Akkus), die aber in der benötigten Größenordnung sehr teuer und technisch komplex sind.

Sind 100 % erneuerbare Energien vorstellbar? Kritischer Engpass bei der Momentanreserve.
Sind 100 % erneuerbare Energien vorstellbar? Kritischer Engpass bei der Momentanreserve.

Pumpspeicherwerke wären eine weitere Möglichkeit, auch diese sind teuer und benötigen ein großes Wasserreservoir. Doch vielleicht kann das gute alte Schwungrad für die Momentanreserve sorgen. Ein entsprechender Versuch läuft gerade im irischen Kohlekraftwerk Moneypoint an. Dort wird man im Juli bis August 2022 einen Wechselstromgenerator ans Netz anschließen, dessen Welle ein Schwungrad mit der beträchtlichen Masse von 120 Tonnen trägt. Dieses wird mit überschüssigem Strom (etwa aus Windkraft und Solarenergie) in Rotation versetzt, hält seine rotierende Masse als mechanische Energie vor und gibt bei erhöhtem Strombedarf und/oder mangelnder Einspeisung durch erneuerbare Energien (nachts und bei Windstille) diese Energie über den Generator wieder ins Netz ab.


Kritischer Engpass bei der Momentanreserve

Über die Lastregelung im Netz hat sich in den letzten 100 Jahren kaum jemand Gedanken gemacht, weil eben die konventionellen Kraftwerke so gut regelbar sind. Dabei sind die Lastschwankungen durchaus beträchtlich, sie betragen stets rund 20 bis 30 Prozent zwischen Tag und Nacht oder auch Wochentagen und Sonn- und Feiertagen. Konventionelle Kraftwerke werden daher in der Nachtschicht und am Wochenende stets heruntergeregelt, was wie erwähnt eine Sache von Minuten ist. Genauso schnell lassen sie sich wieder hochregeln, wenn die Frühschicht in die Industriebetriebe strömt und dort die Maschinen anwirft.

Doch nun geht diese Momentanreserve durch konventionelle Kraftwerke massenhaft vom Netz, weil die Welt auf erneuerbare Energien setzt. Das ist natürlich gut so, jedoch gilt es jetzt, die Netzstabilität zu gewährleisten. Vorreiter sind dabei Länder mit einem isolierten Stromnetz, also keiner Austauschmöglichkeit mit Nachbarn, und gleichzeitig schon einer beträchtlichen Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien. Dazu gehören Großbritannien und Irland. Sie sind jetzt die technischen Vorreiter bei neuen Lösungen für die Momentanreserve. Dabei kamen ihre Ingenieure auf die Idee mit den Schwungrädern.

Deutsche Firmen sind natürlich beteiligt. Siemens Energy liefert solche Schwungräder, sie gingen bereits nach Großbritannien, Italien und Australien. Auch das Schwungrad im irischen Moneypoint – Durchmesser 2 m, Wellenlänge 4 m – kommt von Siemens Energy. Es ist bislang das größte seiner Art, weshalb der Versuch im dortigen Kraftwerk international mit größtem Interesse beobachtet wird.


Wie steht es um die Momentanreserve in Kontinentaleuropa?

Die kontinentaleuropäischen Stromnetze sind miteinander verbunden. Da der Strombedarf in einzelnen Ländern wegen unterschiedlicher Arbeitszeiten, sogar leicht verschiedener Zeitzonen und unterschiedlicher Bedarfe aufgrund des Klimas voneinander abweicht, kann das europäische Verbundnetz Lastschwankungen bislang relativ gut ausgleichen – selbst bei einem schon relativ hohen Anteil an volatilen erneuerbaren Energien (in einzelnen Staaten unterschiedlich hoch). Doch die europäischen Netzbetreiber wissen um das Problem der Momentanreserve beim weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien.

Die deutschen Netzbetreiber haben Lösungen dafür schon in ihren 2021 aufgestellten „Netzentwicklungsplan Strom“ aufgenommen. Diesen Plan beaufsichtigt die Bundesnetzagentur, er wird im Zwei-Jahres-Takt neu aufgelegt. 2021 ging man von einem Kompensationsbedarf bei der Momentanreserve von 40 Gigawatt aus, allerdings erst bis 2035. Dann soll ja der deutsche Strom (fast) ausschließlich aus erneuerbaren Energien stammen. 40 Gigawatt leisten 40 sehr große Kohle- oder Kernkraftblöcke.


Lösungen für die Momentanreserve mit Windkrafträdern

Die Lösung mit Schwungrad ist elegant und könnte sehr gut funktionieren. Deutsche Ingenieure vermuten, dass man sie auf Windkraftanlagen übertragen könnte, denn diese Rotoren sind im physikalischen Sinne auch Schwungräder. Noch treiben sie Gleichstromgeneratoren an und können daher nicht schnell genug Netzschwankungen ausgleichen.

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