Europa braucht dringend Flüssiggas (LNG), nachdem Russland den Großteil seiner Pipeline-Gasverkäufe an den Kontinent eingestellt hat. Dutzende von LNG-Tankern, wie zum Beispiel die Pskov, docken jetzt in Europa an und bringe Gaslieferungen aus Übersee, um die Energieversorgung für diesen Winter zu sichern. Aber die Pskov kommt gar nicht von den westlichen Verbündeten wie Katar. Nein, sie kommt direkt aus Russland und hat ihre LNG-Ladung Anfang Oktober am Revithoussa Desfa LNG-Terminal in Griechenland gelöscht. Und sie kommt auch nicht aus irgendeinem unauffälligen russischen LNG-Hafen. Die Pskov transportiert die erste Lieferung von einem neuen russischem LNG-Terminal. Über dieses Terminal verschifft Moskau einen Teil des gleichen Gases, das es erst vor wenigen Wochen noch über die Pipeline Nord Stream 1 nach Deutschland verkauft hat (Bloomberg: 13.10.22). Der russische LNG-Handel explodiert geradezu.
LNG kommt über neues russisches Flüssiggasterminal nach Europa
Die neue Anlage befindet sich neben der berüchtigten Turbinenpumpstation Portovaya an der inzwischen stillgelegten Nord Stream 1-Pipeline. Die Pskov, ist Teil eines stark expandierenden Handels, dem trotz seiner politischen und wirtschaftlichen Bedeutung nur sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Fast unter dem Radar verkauft Russland immer noch für Hunderte Millionen Dollar LNG-Ladungen. Diese gehen hauptsächlich an dieselben Nationen, die Sanktionen gegen russische Energieträger verhängt haben.
Obwohl Russland besser für seine riesigen Pipeline-Gasexporte bekannt ist, ist es, hinter Katar, Australien und den USA, auch der viertgrößte LNG-Versender der Welt. Russlands LNG-Verkäufe sind nicht annähernd so groß wie einst die Gaspipeline-Exporte, bleiben aber eine Geldquelle. „Der Kreml scheint einen geopolitischen Gewinn erzielt zu haben, indem er die Einnahmen aus dem weltweiten LNG-Verkauf intakt hält“, argumentiert Anne-Sophie Corbeau, Wissenschaftlerin am Center on Global Energy Policy an der Columbia University in New York. Westliche Länder haben Sanktionen gegen russisches Öl verhängt, aber sie haben weiterhin russisches Gas gekauft. Somit sind fast 80 % des LNG, das der Kreml in diesem Jahr bisher exportiert hat, an europäische und asiatische Nationen gegangen, die eine Art Strafmaßnahmen gegen Wladimir Putin verhängt haben. Sie zahlen die aktuellen Marktpreise für das Gas.
LNG-Handel von Russland nach Europa höher als vor dem Ukrainekrieg
Abgesehen von China entfällt ein Großteil der Käufe auf Japan, Frankreich und Spanien. Auf ihrem derzeitigen Weg werden die russischen LNG-Lieferungen im Jahr 2022 ein jährliches Rekordhoch erreichen, so Schätzungen, die auf von Bloomberg zusammengestellten Tanker-Tracking-Daten basieren. Zwischen Januar und September beliefen sich die Lieferungen auf durchschnittlich 2,78 Millionen Tonnen pro Monat, verglichen mit durchschnittlich 2,62 Millionen im gesamten Jahr 2021 und durchschnittlich 2,56 Millionen im Jahr 2019 vor der Pandemie.
Spanien, der sechstgrößte LNG-Käufer der Welt, hat im Jahr 2022 bisher mehr aus Russland importiert als in jedem anderen Jahr zuvor. Auch Belgien ist auf dem Weg, seinen eigenen Jahresrekorde im LNG-Handel zu überbieten. Und Frankreich hat zwischen Januar und September etwa 6 % mehr gekauft als im gesamten Jahr 2021. In Japan funktioniert dieses geopolitische Instrument im Stillen. Während führende amerikanische und europäische Energieunternehmen wie ExxonMobil Corp. und Shell Plc Russland verlassen haben, hat die japanische Regierung ihren heimischen Energie-Champions geraten, zu bleiben. Japan hat auch darauf bestanden, Ölverkäufe aus einem wichtigen russischen Energieprojekt von der G-7-Ölpreisobergrenze auszunehmen.
Die LNG-Transporte zeigen auch, wie Russland mit seinen Gaskäufern im Westen ein Katz-und-Maus-Spiel spielt, einige Exporte stoppt, andere aber offen hält, Rekordpreise einkassiert und sie als politisches und wirtschaftliches Druckmittel nutzt. Es ist Teil eines ökonomischen Hybridkriegs, den Putin als ehemaliger KGB-Geheimdienstoffizier meisterte. Sollte Europa weiterhin russisches LNG kaufen? Der moralische Fall ist offensichtlich: nein. Und vor allem nicht von einem russischen Terminal, das gebaut wurde, um die inzwischen stillgelegte Nord Stream 1-Pipeline, wenn auch nur teilweise, zu umgehen.
Europa ist im nächsten Winter auf russisches LNG angewiesen
Die wirtschaftlichen Argumente sind weniger eindeutig: Im nächsten Jahr würde Europa alles LNG benötigen, das es bekommen kann, um seine Gasvorräte wieder aufzubauen, bevor eine neue Heizsaison beginnt. Wie der Internationale Währungsfonds Anfang dieser Woche formulierte: „Der Winter 2022 wird eine Herausforderung für Europa, aber der Winter 2023 wird wahrscheinlich schlimmer.“ Wenn der Krieg in der Ukraine weitergeht, braucht der Kontinent die Lieferungen aus Russland.
Der Vorteil für Europa, eine Gasknappheit im nächsten Jahr zu vermeiden, ist wahrscheinlich größer als der Vorteil für Russland durch zusätzliche Einnahmen. Aus rein wirtschaftlicher Sicht ergibt es vielleicht Sinn, den Gashandel mit Russland fortzusetzen. Aber der geopolitische Fall ist so einfach wie der moralische: Solange Europa russisches Gas kauft, sei es über Pipelines oder LNG-Tanker wie die Pskow, wäre es Putin ausgeliefert. Es ist ein Verkäufermarkt, und der Verkäufer, kein Geringerer als der russische Präsident, kann nach eigenem Ermessen entscheiden, wann er das Ventil schließt oder die Schiffe anhält.
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