Verschobener deutscher Atomausstieg: Unverständnis bei unseren Nachbarn

Deutschland verschiebt nun seinen Atomausstieg, doch in einigen EU-Ländern hat die Debatte darum Kopfschütteln ausgelöst. Es gibt Staaten in Europa, in denen Atomkraftwerke alternativlos sind (focus, 03.10.2022).


Neue Diskussionen um den Atomausstieg

Das Thema Atomkraft schien bis Anfang 2022 in Deutschland schon erledigt zu sein. Das Laufzeitende für die verbliebenen drei Reaktoren stand fest: 31. Dezember 2022. Dann begann Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Russland reduzierte gleichzeitig die Gaslieferungen in die EU, bis sie schließlich fast komplett ausfielen. Ein wenig Gas kommt noch über südliche Pipelines nach Europa. Das fachte die Debatte um die Atomkraft in Deutschland wieder an. Parallel zum russischen Energiekrieg explodierten die Energiepreise. Nun verkündete Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Grüne) nach längerem Hin und Her, dass doch zwei Atomkraftwerke weiterbetrieben werden sollen. Die zähe Diskussion darum im Vorfeld können einige EU-Staate nicht nachvollziehen.

Deutschland verschiebt nun seinen Atomausstieg, doch in einigen EU-Ländern hat die Debatte darum Kopfschütteln ausgelöst
Deutschland verschiebt nun seinen Atomausstieg, doch in einigen EU-Ländern hat die Debatte darum Kopfschütteln ausgelöst
Bild: Dennis Hansch, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons

Umgang mit der Atomkraft: Deutschlands Sonderweg

Noch vor wenigen Wochen hatte Habeck gesagt, dass mit der Atomkraft nicht zu spielen sein. Doch mit der beginnenden Energiekrise hat er nun angekündigt, die beiden Atomkraftwerke Neckarwestheim und Isar 2 doch in Reserve bzw. am Netz zu lassen. In anderen Staaten gibt es so ein Hin und Her nicht: Dort wurden Entscheidungen zur Atomkraft längst gefällt. Der deutsche Atomausstieg, beschlossen im Sommer 2011 nach der Kernkraftkatastrophe im japanischen Fukushima, galt in fast allen Staaten der Welt als (belächelter) Sonderweg.

Nun hat sich der Wind auch für die Deutschen wieder gedreht. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine und damit verbundene Energieknappheit wirft auch hierzulande ein neues Licht auf die Nutzung der Kernkraft. Deren Befürworter gewinnen wieder an Boden, wobei sie mit Fug und Recht auf die Modelle in anderen EU-Staaten verweisen können. 13 von ihnen nutzen ganz selbstverständlich die Atomkraft für ihre Energieversorgung. Sie haben sich auch durch Fukushima nicht beirren lassen, während die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) rasch und entschlossen nach dem Unglück den deutschen Atomausstieg einläutete. Das gab es in fast keinem anderen Land der Welt. Noch nicht einmal in Japan selbst.

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Atomkraftnutzung in anderen Staaten

Die größten Industriemächte halten unbeirrt an der Kernenergie fest. In den USA laufen derzeit 92 Atomreaktoren. In Frankreich sind es 56 (von denen allerdings rund 30 aktuell gewartet werden), in China 55, in Japan 33 und in Russland 37. Darüber hinaus bauen Staaten nach wie vor neue Atomreaktoren. Einige von ihnen stützen sich sogar in sehr hohem Maße auf diese Energieform wie etwa Frankreich, wo 70 % des Stroms aus Kernkraft stammen. Daher ist ein Atomausstieg in Frankreich absolut kein Thema. Bestenfalls leicht reduzieren wollen die Franzosen ihren Atomstrom, nämlich auf einen Anteil am Energiemix auf 50 % bis zum Jahr 2030. Das Nachbarland Belgien betreibt sieben Atomreaktoren, die knapp 50 % des benötigten Stroms erzeugen, hat zwar auch schon über einen (längerfristigen) Atomausstieg nachgedacht, lässt nun aber infolge der Energiekrise doch zwei Reaktoren länger als geplant, nämlich bis 2035, weiterlaufen. Zuvor war der Ausstieg bis 2025 geplant gewesen.

Ein weiteres Beispiel für den entspannten Umgang mit Kernenergie liefert Finnland, wo die Atomkraftwerke ein essenzieller Bestandteil der Energieversorgung ist. Aktuell laufen fünf Kernreaktoren, ein weiterer soll spätestens Ende 2022 ans Netz gehen. Damit würde Finnland dann 60 % seines Stroms mit Kernenergie erzeugen. Die Finnen haben gute Gründe für diese Konsequenz: Ihr Stromnetz war eng mit dem russischen verflochten, doch die Russen haben die Verbindungen nun gekappt, seit Finnland um Aufnahme in die NATO gebeten hat. Das entstandene Defizit werden die Finnen künftig mit Kernenergie ausgleichen und haben dabei keine großen Diskussionen im Land zu befürchten: Rund die Hälfte aller Finnen wünscht sich mehr statt weniger Atomenergie. Von so einem Rückenwind kann die deutsche Politik nur träumen.

Weitere Beispiele für die Kernkraftnutzung liefern Bulgarien und Rumänien (je zwei Reaktoren), Tschechien (sechs Reaktoren für 36 % des Strombedarfs), die Slowakei (vier Reaktoren für 50 % des Strombedarfs, zwei Reaktoren in der Bauphase), Spanien (sieben Atomkraftwerke für 25 % des Bedarfs), Schweden (zehn Reaktoren, Atomausstieg gecancelt) und Ungarn (vier aktive Reaktoren, zwei im Neubau mit russischer Hilfe).


Atomausstieg – Konsequenzen für Deutschland?

Die Beispiele, die sich noch erweitern und vertiefen ließen, zeigen eines auf: Der Atomausstieg wurde in Deutschland seit Jahrzehnten auf einer starken ideologischen Basis vorbereitet. Darauf konnte Merkel nach dem Fukushima-Schock aufsetzen. Doch es ist ein Umdenken angesagt, wobei auch ideologischer Ballast über Bord zu werfen ist.

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