Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Grüne) warnte am 20. Juli in einer Gesprächsrunde vor den möglichen innenpolitischen Folgen ausbleibender Gaslieferungen aus Russland. Sogar „Volksaufstände“ seien möglich, so die Spitzenpolitikerin. Anschließend bezeichnete sie allerdings ihre Äußerung als bewusste Zuspitzung (Sueddeutsche Zeitung, 21.07.2022).
Baerbock: Gas aus Russland derzeit unverzichtbar
In der vom Redaktionsnetzwerk Deutschland durchgeführten Gesprächsreihe „RND vor Ort“, betonte die Grünen-Politikerin, dass russische Gaslieferungen derzeit noch nicht zu ersetzen seien. Dies werde auch auf absehbare Zeit so bleiben. Ein Thema der Runde war die Gasturbine von Siemens Energy. Diese wurde in Kanada gewartet und zunächst wegen der Wirtschaftssanktionen gegen Russland nicht dem Gaslieferanten Gazprom übergeben. Dieser hatte die Gaslieferungen durch Nord Stream1 schon vor der Wartung auf nur noch 40 % gedrosselt. Gazprom verwies dabei auf technische Gründe. Anschließend hatten sich Deutschland und Kanada über eine Ausnahmeregelung bei den Sanktionen geeinigt.
Die Turbine wurde daraufhin an Deutschland übergeben. Nun soll sie zwar an Gazprom geliefert werden. Doch der russische Konzern hat angeblich bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht die nötigen Zolldokumente beschafft. Die Ausnahme von den Sanktionen hatte in Kanada Unverständnis ausgelöst, die Ukraine hatte dagegen sogar offiziell protestiert. Baerbock sagte zu dem Vorgang, dass ohne die Gasturbine und folglich ohne russisches Gas Deutschland möglicherweise die Ukraine nicht mehr unterstützen könne, weil man hierzulande dann mit Volksaufstände zu tun habe.
Echte Volksaufstände?
Baerbock beruhigte etwas später die medialen Wellen, die ihre Äußerung geschlagen hatte. Bei einem Besuch im sachsen-anhaltinischen Barleben relativierte sie ihre Worte mit dem Verweis auf eine „sehr zugespitzte Formulierung“. Sie habe lediglich die deutsche Haltung in der Embargofrage verdeutlichen wollen. Deutschland hatte sich gegen ein Komplettembargo russischer Gas- und Öllieferungen ausgesprochen, das andere EU-Länder befürwortet hatten.
Auch hierzulande gibt es Menschen, die so ein Embargo für die einzig richtige Antwort auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine halten. Die Außenministerin verwies indes darauf, dass man dann den Bürgern in diesem Fall den abrupten Gasverzicht hätte erklären müssen. Dies habe die Bundesregierung nicht für einen gangbaren Weg gehalten. Schon während der RND-Veranstaltung in Hannover hatte sie auf die Frage einer Journalistin, ob tatsächlich in Deutschland Volksaufständen denkbar seien, geantwortet. „Das habe ich jetzt überspitzt formuliert. Volksaufstände wären vielleicht denkbar, wenn wir gar kein Gas mehr bekommen würden.“
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck zur Gasfrage
Am 25. Juli äußerte sich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Grüne) zur Frage der Gasversorgung im Allgemeinen und der russischen Gaslieferungen im Speziellen. In den ARD-Tagesthemen sagte er, ohne eine sofortige Gaseinsparung von 15 bis 20 Prozent kämen in der Tat sehr schwierige Zeiten schon ab dem kommenden Winterhalbjahr auf uns zu. Da wichtige Industrien bei einer Gasmangellage zuerst von der Versorgung abgeschnitten würden, sei eine schwere Rezession zu befürchten. Deutschland würde aber auch bei einem russischen Gaslieferstopp nach wie vor Gas aus Norwegen, den USA (LNG), den Niederlanden und weiteren europäischen Staaten erhalten.
Nur sei der russische Gasanteil an der einheimischen Versorgung noch nicht zu kompensieren. Dieser hatte im Jahr 2020 noch bei über 55 Prozent gelegen, derzeit sind es noch rund 20 bis 30 Prozent. Das liegt an den durch Russland gedrosselten Gaslieferungen durch Nord Stream1. Diese ist jedoch mit Stand 25. Juli 2022 auf 20 Prozent der früheren Kapazität gesunken. Allerdings liefert Russland noch durch zwei weitere Pipelines (Jamal via Belarus und Polen sowie Transgas via Ukraine und Polen) Gas nach Deutschland.
EU-Kommission ruft zu Solidarität der Mitgliedstaaten auf
Die Bundesregierung und die EU-Kommission rechnen seit der Drosselung der Lieferungen unter dem Vorwand der fehlenden Gasturbine mit einem Komplettausfall des russischen Gases. Der Lieferstopp könnte möglicherweise schon vor dem Winterhalbjahr 2022/23 erfolgen. Daher hat die EU-Kommission in den letzten Tagen die Mitgliedsstaaten aufgefordert, zunächst freiwillige Gaseinsparungen von 15 Prozent zu erzielen. Dazu fordert die EU gegenseitige Solidarität bei der Energieversorgung ein. Nötigenfalls werde man diese Einsparungen auch gesetzlich verordnen, so Kommissionspräsidentin von der Leyen. Widerstand dagegen gibt es unter anderem aus Ungarn, Spanien, Portugal und Griechenland (Blackout-News: 24.07,22).
Die rechtspopulistische ungarische Regierung unter Viktor Orbán will den EU-Kurs aus Prinzip nicht mittragen. Ungarn kauft im Gegenteil noch mehr Gas in Russland ein. Die Spanier und Portugiesen haben nur eine sehr schwache Verbindung zum europäischen Energienetz. Deshalb fühlen sie sich aufgrund eigener Sparmaßnahmen nicht verpflichtet, den Deutschen unter die Arme zu greifen, die über viele Jahre ihre Wirtschaft mit billigem russischen Gas versorgt haben.
Lesen Sie auch:
- Gasverteilung bei Mangel: Esken widerspricht Habeck
- Gutes Erdgas, schlechtes Erdgas: Das energetische Dilemma
- Gas zur Energieversorgung – das sind die Risiken
- Energiewende in den Blackout
- EU-Notfallplan Gas – erste Staaten widersetzen sich