Flächenbrand in der Industrie: Der Strukturwandel entfacht einen Dominoeffekt, der die gesamte Autoindustrie erschüttert. Insolvenzen, Stellenabbau und Industrieabwanderung bestimmen die neue Realität. Autozulieferer verlieren massenhaft Aufträge, die Standortverlagerung schreitet rasant voran. Elektromobilität wird zum Wendepunkt – doch statt Aufbruch herrscht Abwanderung. Branchenexperte Thomas R. Köhler beschreibt einen Dominoeffekt über mehrere Wertschöpfungsstufen: Wenn ein Job bei Mercedes verschwindet, treffen die Folgen oft drei bis fünf Stellen in der Zulieferkette (ntv: 09.10.25).
Produktionsflucht als neues Normal
Der Dominoeffekt zeigt sich quer durch die Branche. Jahrzehntelanger Kostendruck hat viele Autozulieferer zermürbt. Große Hersteller drücken die Preise, kleine Betriebe verlieren den Boden. Selbst Traditionsunternehmen wie Kiekert, einst Weltmarktführer bei Türschlössern, rutschen immer wieder in die Insolvenz. Die Industrieabwanderung beschleunigt sich mit der Elektromobilität, da neue Komponentenstrukturen alte Geschäftsmodelle verdrängen.

Mit jedem neuen Werk im Ausland zieht auch die gesamte Zuliefererkette mit. Der BMW iX3 entsteht in Ungarn – die Partnerbetriebe gleich daneben. Große Konzerne holen zusätzlich mehr Fertigung zurück in eigene Werke, um ihre Wertschöpfung zu sichern. Fremdfirmen wie Karmann, einst Partner von Volkswagen, existieren nicht mehr.
Dominoeffekt über die gesamte Wertschöpfung
Der Wandel begann lange vor der Pandemie, doch in den Krisenjahren beschleunigte sich der Dominoeffekt dramatisch. Auftragsrückgänge und Standortverlagerungen nach Osteuropa reißen Lücken in die Produktionsketten. „Die Branche ist viel volatiler, als wir uns eingestehen wollen“, erklärt Köhler. Jeder verlorene Arbeitsplatz bei einem Autobauer zieht mehrere in der Zulieferung nach sich – ein Dominoeffekt mit enormer Wucht. Ganze Regionen verlieren ihre industrielle Substanz.
Zugleich verändert die Elektromobilität die Anforderungen. Viele klassische Teile entfallen. Zulieferer müssen entscheiden, wann sie umsteigen. „Neue Autos haben Zyklen von sieben Jahren“, sagt Köhler. „Das bedeutet, dass der Zulieferer auch ein Risiko trägt.“ Wer den Wandel zu spät einleitet, verliert den Anschluss.
Bosch, Continental und die Standortverlagerung
Auch Branchengrößen wie Bosch und Continental geraten unter Druck. Bosch plant, bis 2030 ein Drittel seiner Stellen zu streichen. Nicht, weil das Unternehmen schwach wäre, sondern weil asiatische Konkurrenz zu niedrigeren Preisen liefert. „Ein Produkt muss nicht immer das beste sein, sondern nur gut genug“, betont Köhler. Chinesische Anbieter produzieren solide und günstig – ein weiterer Treiber der Industrieabwanderung.
Die Lösung vieler Konzerne: Standortverlagerung dorthin, wo Autos entstehen. Entwicklung und Fertigung konzentrieren sich zunehmend in China, Polen oder Ungarn. Bosch bleibt global relevant, doch die neuen Jobs entstehen längst außerhalb Deutschlands.
Politik ohne Augenmaß
Politische Fehlentscheidungen verstärken den Dominoeffekt. Statt Innovation zu fördern, strangulieren Vorschriften die Branche. Überregulierung, fehlende Batteriefertigung und Bürokratie lähmen jede Dynamik. „Ein starres Enddatum für den Verbrenner war ein grober Fehler“, warnt Köhler. Die EU habe den Markt fehlgeleitet und Arbeitsplätze vernichtet.
Die Abhängigkeit von Asien wächst. „Die Chinesen sitzen auf den Rohstoffen und kontrollieren die Batteriefertigung“, sagt Köhler. Versuche, in Europa eigene Zellproduktion aufzubauen, scheiterten – etwa bei Northvolt und Varta. Die teuerste Komponente im E-Auto bleibt damit asiatisch.
Chinas Pragmatismus, Europas Stillstand
Während Europa sich in Vorschriften verliert, verfolgt China eine pragmatische Linie. Dort existiert kein Verbrenner-Verbot. „Es gibt Elektroautos, in denen zusätzlich ein kleiner Verbrennungsmotor mitläuft“, erklärt Köhler. Diese sogenannten Extended Range Electric Vehicles beseitigen die Reichweitenangst.
Europa dagegen blockiert sich selbst. Statt immer neuer Subventionen braucht die Industrie verlässliche Rahmenbedingungen und Entlastung von Bürokratie. Ohne mutige Reformen droht der Exodus weiterzugehen. Der Dominoeffekt der Industrieabwanderung ist längst Realität – und kein Szenario der Zukunft mehr.
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