Olaf Scholz nutzte 2022 seine Richtlinienkompetenz, um den Weiterbetrieb dreier Atomkraftwerke bis April 2023 anzuordnen. Offiziell galt dies als eigenmächtige Entscheidung des Kanzlers, um die Energiekrise zu entschärfen. Doch neue Dokumente zeigen: Hinter den Kulissen lief eine Abmachung zwischen Scholz und seinem grünen Vizekanzler Robert Habeck – zum Nachteil der FDP und entgegen der Darstellung für die Öffentlichkeit (welt: 10.01.25).
Energiekrise als Hintergrund
Nach der Einstellung der russischen Gaslieferungen im Herbst 2022 drohten Stromausfälle. Die Energiepreise explodierten, und die geplante Abschaltung von drei Atomkraftwerken verschärfte die Unsicherheit. Während die FDP für den Weiterbetrieb eintrat, plädierten die Grünen auf Reservebetrieb. Scholz griff ein und entschied, die AKWs bis April weiterlaufen zu lassen. Doch die Darstellung eines klaren Machtworts gerät ins Wanken.
Interne Dokumente, zeigen, dass Scholz und Habeck bereits Monate vorher in einer Abmachung eine Strategie erarbeiteten. Ziel war es, die FDP auszumanövrieren und innerparteiliche Kritiker der Grünen zu beschwichtigen. Diese Enthüllung gibt dem vermeintlichen Machtwort eine neue Bedeutung.
Die geheime Abmachung
Bereits im August 2022 schrieb Jörg Kukies, Staatssekretär im Kanzleramt, eine Mail, in der er Steuerfragen zur Laufzeitverlängerung klären lassen wollte – ohne Einbindung des von Christian Lindner geleiteten Finanzministeriums. Parallel liefen Abstimmungen zwischen Habecks Ministerium und dem Kanzleramt. Obwohl die Grünen öffentlich auf den Reservebetrieb pochten, hielten sie diesen laut interner Kommunikation für unpraktikabel.
Patrick Graichen, Habecks Staatssekretär, betonte in einer Mail, dass abgeschaltete AKWs vor einem Neustart wochenlange Revisionen benötigen würden. Habeck selbst schrieb Ende September, dass die Anlagen im ersten Quartal 2023 am Netz bleiben müssten, falls sich die Lage nicht radikal ändere.
Verhandlungs-Chips und grüne Forderungen
Hinter den Kulissen verhandelten die Grünen mit Scholz über Zugeständnisse. Graichen listete Forderungen auf: Ein Energieeffizienzgesetz, ein Sofortmaßnahmenpaket für Windenergie, neue Regelungen zur kommunalen Fernwärmeplanung und zusätzliche 100 Milliarden Euro für den Energie- und Klimafonds. Diese Punkte sollten in der Abmachung als Gegenleistung für den Weiterbetrieb der AKWs durchgesetzt werden.
Eine Mail Graichens zeigt, dass er den Streckbetrieb – also den Weiterbetrieb der AKWs – bevorzugte. Er empfahl, diesen ohne Umwege umzusetzen. Die grüne Öffentlichkeitsstrategie zielte jedoch darauf ab, den Parteitag mit dem Vorschlag einer Reserve zu beruhigen. Gleichzeitig liefen im Hintergrund Verhandlungen über den direkten Weiterbetrieb.
Konsequenzen für Scholz und Habeck
Der vermeintliche Alleingang von Scholz war in Wahrheit eine bereits vorher abgestimmte Abmachung. Der Kanzler sicherte sich grüne Zustimmung, indem er zentrale Forderungen der Partei aufgriff. In seinem offiziellen Schreiben an Habeck bekräftigte er, parallel zur AKW-Entscheidung ein Gesetz zur Energieeffizienz voranzubringen und den Kohleausstieg bis 2030 gesetzlich zu verankern.
Für die FDP, die 2023 in die Opposition wechselte, bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Abgeordnete wie Frank Schäffler werfen Scholz vor, die Öffentlichkeit getäuscht zu haben. Die FDP-Position für einen unbefristeten Weiterbetrieb der AKWs wurde durch das Manöver ausgehebelt. Der Untersuchungsausschuss im Bundestag arbeitet die Vorgänge auf. Scholz und Habeck sind als Zeugen geladen.
Kritische Stimmen und Ausblick
Die Enthüllungen werfen ein Schlaglicht auf die Entscheidungsprozesse innerhalb der Ampelregierung. Scholz’ Behauptung, alleine entschieden zu haben, widerspricht den neuen Erkenntnissen. Bereits 2022 wies die WELT AM SONNTAG darauf hin, dass die Entscheidung abgestimmt wirken könnte. Scholz’ damalige Antwort: „Die Betroffenen haben nicht erst mit dem Brief von meiner Entscheidung erfahren, sondern ich habe sie ihnen vorher angekündigt.“
Robert Habeck erklärt heute, dass er den Streckbetrieb der AKWs befürwortete, um die Energiesicherheit zu gewährleisten. Gleichzeitig machte er die FDP für Verzögerungen verantwortlich. Die Dokumente belegen jedoch, dass hinter den Kulissen ein Deal orchestriert wurde, der grüne Forderungen durchsetzte und den Koalitionspartner FDP schwächte.
Diese Vorgänge dürften die Debatte über die Rolle von Scholz und Habeck in der Energiekrise weiter anheizen. Der Untersuchungsausschuss wird zeigen, welche Konsequenzen die Absprachen für die beiden Politiker haben könnten.
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