Seit 2007 entsteht im Süden Frankreichs eine gigantische Anlage, die den Weg zu einer besonders reichhaltigen Energiequelle ebnen soll. Der „International Thermonuclear Experimental Reactor“ (ITER) hätte 2025 erstmals in Betrieb gehen sollen. Allerdings hat sich das Projekt aufgrund massiver Verzögerungen und explodierender Kosten erheblich verschoben. Anfang Juli präsentierte ITER-Generaldirektor Pietro Barabaschi einen neuen Zeitplan. Daraufhin berichteten Medien von „großen Schwierigkeiten“ und sprachen von jahrzehntelanger Verspätung.
Herausforderungen bei der Kernfusion
Das Thema Kernfusion hat in den letzten Jahren erheblich an Dynamik gewonnen. Kleinere Forschungsreaktoren in verschiedenen Ländern melden immer häufiger Erfolge. Start-ups mit visionären Plänen wecken zunehmend Begeisterung. Investoren und Privatpersonen, die Lösungen für den Klimawandel suchen, interessieren sich verstärkt für Fusionsenergie. Doch von ITER hört man derzeit eine Hiobsbotschaft nach der anderen. Kürzlich wurde bekannt, dass einige der elf Meter hohen Segmente der Donut-förmigen Vakuumkammer von ITER aufgrund von Herstellungsfehlern nicht perfekt zusammenpassen. Bereits installierte Isolierungen wiesen plötzlich Risse auf. Die französische Atomenergiebehörde forderte zusätzlichen Strahlenschutz, der jedoch zu viel Gewicht für das gegen Erdbeben gedämpfte Fundament bedeutet hätte.
Schwierigkeiten bei internationaler Zusammenarbeit
Je länger das Projekt dauert, desto mehr hinkt es dem Fortschritt der Technik hinterher. ITER passt seine Pläne ständig an, um mit aktuellen Entwicklungen und Erkenntnissen im Kernfusionsbereich Schritt zu halten. Das kostet Zeit und Geld. „ITER ist ein riesiges internationales Projekt. Ein Teil kommt aus einem Land, das nächste aus einem anderen Land. Das bringt Verzögerungen und Kommunikationsschwierigkeiten mit sich“, erklärt Christopher Albert vom Institut für theoretische Physik der TU Graz. Zudem hat die Covid-Pandemie die Lieferketten gestört. Der Reaktor muss extrem strenge Vorschriften einhalten, wie sie auch für Kernkraftwerke gelten. Daher sei eine Veränderung des Zeitplans nichts Ungewöhnliches.
Hartmut Zohm vom Max-Planck-Institut für Plasmaphysik erklärt in einem YouTube-Video zum neuen ITER-Plan: Im Grunde kann man nur von 3 bis 4 Jahren Verzögerung sprechen. Der Betrieb bei voller Leistung des Magnetfeldes soll nun 2036 statt 2033 beginnen. Der Einsatz von Deuterium und Tritium-Brennstoffen ist für 2039 statt 2035 geplant. Das ITER-Team habe „das Beste aus einer misslichen Lage gemacht und Funktionen eingebaut, die es so nicht gegeben hätte“. (YouTube, 14.07.2024)
Erkenntnisse aus anderen Projekten
Ein Beispiel für solche Anpassungen ist die extrem hitzebeständige Beschichtung der Reaktor-Innenseite. Ursprünglich sollte sie aus Beryllium bestehen. Wie sich jedoch zeigte, zersetzt sich das Metall in einem Fusionsreaktor relativ schnell. Eine Beschichtung mit Wolfram hat sich als ausdauernder erwiesen. Die Befürchtung, dass es das Reaktorplasma verunreinigen könnte, hat sich bei Experimenten mit dem deutschen Fusionsreaktor ASDEX Upgrade zerschlagen. Daher erhält ITER nun eine Wolfram-Innenwand.
Offenes Klima in der Branche
Bei Maschinen, die es nie zuvor gegeben hat, müsse man immer mit Problemen rechnen, betonen Experten. Aus den Herausforderungen bei ITER könne die gesamte Branche lernen. Erkenntnisse des Riesenprojekts werden intensiv mit wissenschaftlichen Einrichtungen und Unternehmen geteilt. „Das Klima ist sehr offen und kollaborativ“, betont Albert. „Es ist fast ein Alleinstellungsmerkmal in der Forschung, dass das so gut klappt.“
Je mehr Unternehmen im Bereich der Kernfusion aktiv sind, desto mehr könnten sich in Zukunft die Interessen von Investoren durchsetzen. Der Fusionsenergie-Dachverband FIA meldet eine stetig steigende Zahl von Unternehmen, die Fusionsenergie kommerzialisieren wollen. Aktuell sind es weltweit 45. „Es ist wichtig, dass man die Gesprächsbasis beibehält“, so Albert. „Unternehmen kommen alleine nicht weiter. Am Ende soll es für alle eine Win-Win-Situation sein.“
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