Deutschland spart derzeit enorm viel Gas ein. Seit dem 15. November 2022 sind die deutschen Gasspeicher zu 100 % gefüllt. Dennoch warnen Ökonomen vor einem Marktkollaps (rnd, 10.11.2022).
Gaseinsparungen um 36 %
In der ersten Novemberwoche 2022 lag der Gasverbrauch in Deutschland um 36 % unter dem Durchschnitt von 2018 bis 2021. Gleichzeitig erwartet der Deutsche Wetterdienst einen relativ milden Winter, was zu fortgesetzten Gaseinsparungen führen dürfte. Vor allem die Industrie hält sich vorbildlich an die Einsparziele, wie der Chef der Bundesnetzagentur (BNetzA) Klaus Müller am 15. November mitteilte. Der tägliche Gasverbrauch lag zuletzt bei rund 1.900 GWh/Tag und damit nur sehr leicht über dem der Vorwoche, in der es aber auch noch 4,7 °C wärmer war. 1.168 GWh entfielen auf die Industrie.
Die Werte lassen auf einen sehr umsichtigen Umgang mit dem Gasverbrauch schließen. Auch drosseln die Industrieunternehmen allein schon wegen des Preisschocks an den Gasmärkten ihren Verbrauch. Bei den gegenwärtigen Preisen ist vielfach eine energieintensive Produktion einfach unrentabel. Den Verbrauch im kommenden Winter werden allerdings die Außentemperaturen bestimmen. Diese könnten den Einsparzielen entgegenkommen: Aktuell liegen sie um 1,9 °C über denen der vergangenen Jahre. Auch diesen Wert teilte die Bundesnetzagentur in ihrem Statement mit.
Der Deutsche Wetterdienst (DWD) hat nun eine Prognose für die Wintermonate zwischen Dezember und Februar vorgestellt: Nach seinen Modellrechnungen könnte die Temperatur auch in den kommenden Monaten höher bleiben als in den Vorjahren. Es ist denkbar, dass der kommende Winter zu dem Drittel der mildesten Winter zwischen 1991 und 2020 gehört. Diese Prognose bestätigen andere europäische Wetterdienste, unter anderem der britische und der französische. Der DWD-Wetterexperte Tobias Fuchs betonte in diesem Kontext, dass dies eine sehr gute Prognose sei, die zu signifikanten Gaseinsparungen führen werde.
Derzeit sinkende Gaspreise
Ein Zusatzeffekt der aktuellen und prognostizierten Temperaturen ergibt sich, weil in Erwartung eines milden Winters die Gaspreise sinken. Die Großhändler erwarten eine deutlich geringere Nachfrage. Zwar liegen die Preise immer noch auf dem etwa 2,5-Fachen des Vorjahres, aber schon rund 30 % unter denen von September 2022. Der BNetzA-Präsident Klaus Müller glaubt, dass die anvisierten Gaseinsparungen von 20 % erreichbar sind, wenn der Winter wirklich so mild wird wie vorhergesagt.
Man solle dennoch die Einsparziele weiter durchhalten. Schon wenige kalte Tage würden die Reserven schnell schrumpfen lassen, denn bei Temperaturen unter 0 °C steigt der Tagesverbrauch erfahrungsgemäß auf 6.000 GWh/Tag und auch darüber (je nach Außentemperatur). Eine ganz andere Warnung kommt indes von den beiden Ökonomen Achim Wambach (ZEW Mannheim) und Axel Ockenfels (Universität Köln). Sie weisen darauf hin, dass ein extrem knappes Gasangebot bei gleichzeitig unflexibler Nachfrage den Gasmarkt deswegen kollabieren lassen kann, weil bei plötzlich emporschießenden Notierungen – etwa wegen einer Kaltfront – die Versorger die hohen Preise nicht mehr bezahlen können. Dann erhalten sie auch kein Gas, obwohl es eigentlich am Großmarkt vorhanden ist. Solche Mechanismen gab es 2021 an der Strombörse in Texas. Im Ergebnis traten regionale Blackouts ein. Es waren einfach kurzfristig keine vertretbaren Preise mehr zu bezahlen oder überhaupt erst einmal zu ermitteln. Das kann beim Gas auch passieren.
Ist eine Gaszuteilung denkbar?
Wenn eine Gasmangellage eintritt, und sei es wegen der Unflexibilität des Marktes, muss die Bundesnetzagentur Gas zuteilen. Das gilt allgemein als Schreckensszenario, weil dabei Benachteiligungen unvermeidlich sind. Daher schlagen die beiden Ökonomen Ockenfels und Wambach vor, besser Wettbewerbselemente für eine derartige Notlage zu entwickeln. So könnten beispielsweise die Unternehmen Zertifikate für ihren Gaseinkauf erhalten, die sie wiederum weiterverkaufen könnten. Auf diese Weise würde das Gas jederzeit flexibel dorthin fließen, wo man es am nötigsten braucht und auch bezahlen kann.
Ein weiteres Instrument könnten „Abschalt- oder Umschaltauktionen“ sein. Firmen würden dann Geld dafür bekommen, dass sie ihren Gasverbrauch herunterfahren. Sie könnten wahlweise die Produktion temporär stoppen oder von vornherein auf Öl umstellen. Solche Verbrauchsreduktionen müssten allerdings längerfristig gelten. Die BNetzA plant sie derzeit nur höchstens tageweise. Die Ökonomen mahnen an, diesen Mechanismus zeitig einzuführen und bei den gegenwärtig milden Temperaturen auch zu testen. Es ließen sich damit diejenigen Unternehmen identifizieren, die ihren Gasverbrauch flexibel genug regeln können. Das Wissen um diese Marktakteure würde helfen, einen Marktkollaps zu vermeiden, so die Experten Ockenfels und Wambach.
Lesen Sie auch:
- Studie: Deutsche LNG-Terminals sind ein Milliardengrab
- Verzögerung beim ersten LNG-Terminal in Lubmin
- LNG Schiff in Wilhelmshaven wurde in Australien aufgrund hoher Umweltbelastung abgelehnt
- Gasspeicherbetreiber skeptisch, dass Gasvorräte über den Winter reichen
- Wie lange reicht das Gas in den Gasspeichern?