Die steigenden Energiekosten beeinträchtigen viele Industrien, darunter auch unerwartete, wie zum Beispiel Kläranlagen.
Durch das Klärwerk in Gießen strömen am Tag 23 Millionen Kubikmeter, das entspricht über 200.000 vollen Badewannen. Derzeit wird besonders viel Wasser durch das Klärwerk gepumpt, da auch der Regen in die Kanäle gelangt. Dies erschwert laut dem stellvertretenden Betriebsleiter Steffen Herbert die Situation, da mehr Regen den Bedarf an Chemikalien zur Klärung erhöht. Doch viele der benötigten Chemikalien sind aufgrund der Energiekrise bereits knapp (giessener-allgemeine: 06.02.23)
Kritische Chemikalienknappheit bedroht Kläranlagen – in einigen Bundesländern bereits Grenzwerte erhöht
Der Sender 3Sat berichtete in der vergangenen Woche, dass bestimmte Chemikalien, die für die Behandlung von Abwasser unverzichtbar sind, aktuell schwer zu beschaffen sind. Um die Klärwerke am Laufen zu halten, wurden an einigen Orten bereits die Grenzwerte angehoben, damit die Kläranlagen weiter arbeiten können.
Steffen Herbert bestätigt dies: „Das stimmt. Allerdings nur in einigen Bundesländern, Hessen gehört nicht dazu.“ Trotzdem verursacht der Mangel Probleme. „Früher hatten wir eine Lieferzeit von ein bis zwei Wochen, aber seit einigen Monaten dauert es eineinhalb bis zwei Monate.“ Dafür sei die Energiekrise verantwortlich.
Energiekrise verursacht Knappheit an Abwasserbehandlungsmitteln
In Kläranlagen werden laut Herbert Fällmittel eingesetzt, um das Abwasser aufzubereiten. Dies sind überwiegend Salze, die Eisen oder Aluminium enthalten, und mit denen das Phosphat im Abwasser gebunden wird. Fällmittel sind ein Nebenprodukt der Produktion von Eisen und Titandioxid. Da die Produktion dieser Energiezweige wegen hoher Energiekosten heruntergefahren oder eingestellt wurde, fehlen auch diese Nebenprodukte, die für die Abwasseraufbereitung benötigt werden, so Herbert.
Regierung muss bei Chemikalienknappheit Entscheidungen treffen: Vorrang für Trinkwasseraufbereitung
In einigen Bundesländern, im Norden Deutschlands, werden die Chemikalien, die für die Abwasserbehandlung benötigt werden, aufgrund des Mangels von der Regierung zugeteilt. Herbert erklärt, dass für die Trinkwasseraufbereitung die gleichen Stoffe benötigt werden und diese Werke bei der Zuteilung Vorrang vor den Klärwerken haben. Wenn für die Klärwerke nicht mehr ausreichend Material verfügbar ist, dürfen diese manchmal höhere Grenzwerte für das Abwasser zulassen.
Herbert betont, dass in Gießen die bestehenden Grenzwerte für die Abwasserbehandlung eingehalten werden. Hierfür sei jedoch ein großer Aufwand notwendig. Um an die knappen Chemikalien zu gelangen, habe man die Lagerhaltung stark anpassen müssen. Dies beinhaltete die Schaffung zusätzlicher Lagerflächen, was besondere Herausforderungen darstelle, da einige der Chemikalien wassergefährdende Stoffe seien und nicht einfach abgestellt werden könnten. Manche müssten frostfrei gelagert werden, um ihre Wirksamkeit zu bewahren.
Das Gießener Klärwerk-Team musste eine umfangreiche Lieferplanung einführen, einschließlich wöchentlicher Abstimmungen mit Lieferanten, aufgrund der größeren Lagerhaltung. Doch unerwartet hohe Niederschlagsmengen können diese Planung schnell beeinträchtigen. Denn Regen führt zu erhöhtem Zulauf und somit mehr Wasser, das behandelt werden muss. Dadurch verkürzt sich die Aufenthaltszeit des Wassers in den Becken, wodurch mehr Fällmittel benötigt werden. Dies führt zu einer größeren Nachfrage nach einem bereits begrenzten Angebot.
Blackout-Sorgen nehmen bei Klärwerkbetreibern zu
In Gießen nimmt aufgrund der Energiekrise die Sorge vor einem Blackout zu, da überlebenswichtige Infrastruktur ausfallen kann, wenn kein Strom verfügbar ist. Bereits nach zwei Stunden würde die Kläranlage zusammenbrechen, wenn kein Strom zur Verfügung steht.
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