Ankara als Gasdrehscheibe: Russlands neuer Hebel gegen Europas Sanktionen

Russland orientiert sich neu: Während die EU einen vollständigen Ausstieg aus russischem Gas bis 2027 plant, rückt Ankara in den Fokus des Kremls. Bereits seit 2020 strömt Erdgas durch die TurkStream-Pipeline in die Türkei und weiter in südosteuropäische Länder. Im vergangenen Jahr flossen rund 21 Milliarden Kubikmeter durch diese Leitung. Jetzt will Moskau zusätzlich Flüssigerdgas (LNG) nach Ankara liefern und zugleich enger in die türkische Gasinfrastruktur investieren (berliner-zeitung: 27.06.25).


LNG-Offensive über Ankara gewinnt an Dynamik

Ein vertrauliches Protokoll der russisch-türkischen Regierungskommission zeigt: Russland drängt auf stabile LNG-Lieferungen und bietet Investitionen in Importterminals an. Vizepremier Alexander Nowak hebt hervor, dass die Türkei bereits über vielfältige LNG-Bezugsquellen verfügt. Russische LNG-Mengen könnten sowohl kurzfristig als auch vertraglich langfristig eingebunden werden. „Die konkrete Umsetzung hängt maßgeblich von den kommerziellen Bedingungen ab“, so Nowak.

Russland nutzt Ankara als neue Gasdrehscheibe, um den EU-Ausstieg zu kompensieren – LNG-Ausbau, Pipeline-Deals und Folgen im Überblick
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Parallel dazu laufen Gespräche mit der türkischen Staatsgesellschaft Botas über Vertragsverlängerungen. Blue Stream und der erste Strang von TurkStream beliefern ausschließlich den türkischen Markt. Die bestehenden Vereinbarungen laufen Ende 2025 aus. Der zweite Strang von TurkStream versorgte 2024 Südosteuropa mit rund 15 Milliarden Kubikmetern. Nach dem Ende der ukrainischen Transitroute bleibt diese Verbindung die letzte aktive Pipeline nach Europa.

Pipeline-Schutz und geopolitische Spannungen

Beide Länder kündigen verstärkte Schutzmaßnahmen für die Pipelines an. Hintergrund sind Berichte über mehrere Drohnenangriffe im ersten Quartal 2025. Russland beschuldigt die Ukraine, doch eine unabhängige Bestätigung fehlt bislang. Der Plan für einen russisch dominierten Gas-Hub in der Türkei gilt hingegen als gescheitert. Bloomberg meldete Anfang Juni den Rückzug von Gazprom – mangelnde Infrastruktur und begrenztes Interesse Ankaras verhinderten das Projekt.

Energieanalyst Alexei Belogorjew kritisierte die Idee als unrealistisch. Konkrete Schritte habe es nie gegeben, lediglich diplomatische Absichtserklärungen. Dennoch bleibt ein alternatives Szenario denkbar: Russisches Gas könnte künftig über türkische Zwischenhändler nach Europa gelangen – etikettiert als „türkisch“. Vergleichbare Modelle existieren bereits bei russischem Öl, das über Indien reexportiert wird.

LNG als politische Antwort – trotz hoher Kosten

Russland setzt verstärkt auf LNG – vor allem aus strategischen Gründen. Der Transport per Schiff gilt als widerstandsfähiger gegenüber politischen Spannungen und Angriffen auf Pipelines. Technisch jedoch bleibt LNG aufwendig. Es fehlen leistungsfähige Verflüssigungsanlagen am Schwarzen Meer, der Transport erfordert kostspielige Infrastruktur. Auch Ankara müsste zusätzlich in Regasifizierungsanlagen investieren.

Trotzdem bleibt Russland ein bedeutender Lieferant: Laut Eurostat lag der russische LNG-Anteil in der EU im ersten Quartal 2025 bei 17 Prozent – hinter den USA, aber noch vor Katar. Im Bereich Pipeline-Gas dominiert Norwegen. Russlands Marktanteil sinkt weiter, neue Märkte außerhalb Europas sollen diese Verluste nun auffangen.


Europas Verlust bleibt schwer zu kompensieren

Die Türkei bietet Potenzial, ersetzt aber keine 40 Jahre gewachsene Energiepartnerschaft mit Europa. Die russisch-türkische Annäherung dient eher als strategischer Puffer denn als wirtschaftlich gleichwertige Alternative. Moskau nutzt Ankara als neue Energiebrücke – doch der Bruch mit Europa bleibt ein tiefer Einschnitt.

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