Nach neueren Studien zur Angebots- und Nachfrageentwicklung von Erdgas in ganz Europa ist ein Verzicht auf russisches Gas bislang nicht ohne schlechte Kompromisse möglich. Er würde nur eine prekäre Abhängigkeit durch andere, ebenfalls schlechte Abhängigkeiten ersetzen. Darauf verwiesen unter anderem Beobachter der jüngsten Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nach Saudi-Arabien und Katar, der dort neue Energiepartnerschaften vereinbarte. In diesen Staaten herrscht eine sehr schlechte Menschenrechtslage, die Deutschland künftig wohl kaum noch deutlich kritisieren kann. Es gibt darüber hinaus noch weitere Unsicherheiten (heise, 23.09.2022).
Dramatische Energiesituation in Europa
Die Berichte zur wirtschaftlichen Entwicklung in Europa können derzeit nur erschrecken: Die Sanktionen des Westens gegen Russland und der nachfolgende Gasstopp durch Nord Stream 1, den wiederum Russland initiiert hat, haben eine Energiekrise auf dem Kontinent ausgelöst, die schlimmstenfalls den Verlust unserer industriellen Basis auslösen kann. Erste Unternehmen, die auf Gas angewiesen sind, stoppen bereits ihre Produktion. Bekannte Folgen sind unter anderem:
- Kunstdünger kann nicht mehr ausreichend hergestellt werden.
- Als Folge des Kunstdüngermangels fehlen auch AdBlue für Dieselmotoren und in den Brauereien Kohlendioxid für Bier und alkoholfreie Getränke.
- Der französische Glashersteller Duralex ist in den Energie-Lockdown gegangen.
- In Italien hat mit Yara der landesweit einzige Produzent von Harnstoff und Ammoniak seine Produktion eingestellt.
- Europäische Keramikproduzenten und Textilhersteller stehen vielerorts kurz vor dem Aus.
- Die polnische Wirtschaft soll nach einem Bericht des Handelsblatts vom 22. September 2022 besonders stark betroffen sein.
- Der Verband Eurometaux, der die europäische Metallindustrie vertritt, meldete vor wenigen Tagen, dass inzwischen die Hälfte der europäischen Zink- und Aluminiumproduktion stillsteht.
Kein Zweifel: Der perfekte Sturm aus mangelnden Energieressourcen und explodierenden Energiepreisen braut sich nicht erst über dem Kontinent zusammen, er hat bereits begonnen. Der Verband Eurometaux hat inzwischen einen Brief an mehrere EU-Institutionen verfasst, der dem Handelsblatt vorliegt. Darin heißt es, dass man nicht damit rechne, dass sich die europäische Metallindustrie schnell erhole. Vielmehr rechne man mit weiteren Werksschließungen im kommenden Jahr. Dies bedeutet aber, dass die gegenwärtige Krise nicht mehr nur Restaurants, Hotels oder die Reise- und Veranstaltungsbranche trifft, wie das auf dem Höhepunkt der Coronakrise der Fall war. Vielmehr geht es um industrielle Schwergewicht. Wenn diese fallen, fällt in der Tat die industrielle Basis Europas.
Apokalypse oder Geburtswehen?
Die Szenarien klingen düster, doch es gibt auch einen anderen Blickwinkel auf die Situation. Die Staaten der EU streben seit dem Ukraine-Krieg nach Unabhängigkeit von russischen Rohstoffen, die gleichzeitig als fossile Energieträger eine Ära verkörpern, die wir aus Gründen des Klimaschutzes ohnehin überwinden wollten. Die durch den Krieg und Energiekrieg ausgelöste Krise beschleunigt nun den Wechsel hin zu erneuerbaren Energien, was für den Moment zwar schmerzt, aber ohnehin unumgänglich ist. Mit etwas Euphemismus dürfen wir daher die gegenwärtigen Schmerzen als Geburtswehen des neuen Zeitalters betrachten, in welchem fossile Energieträger keine Rolle mehr spielen werden. Diese Betrachtung steht dem apokalyptischen Blick auf die Lage gegenüber, doch ist es wirklich so einfach? Gas, Öl und selbst Kohle sind nicht nur Energielieferanten, sondern auch Grundstoffe für die chemische Industrie. Erneuerbare Energien können Strom und Wärme liefern, aber für Kunstdünger, AdBlue, CO₂, Kunststoffe und vieles mehr benötigen wir auch die fossilen Rohstoffe.
EWI-Studie zur Gassituation bis 2030
Dass wir für eine Übergangszeit noch Erdgas benötigen, ist unumstritten. Doch wie werden wir diese Übergangszeit erleben? Dies hat das EWI (Energiewirtschaftliches Institut) der Kölner Universität in einer Studie untersucht. Die Forscher rechneten sechs Szenarien bis 2030 durch, bei denen sie jeweils die Parameter der Angebots- und Nachfrageseite veränderten. Die Kernfrage lautete: Wie wirkt sich ein teilweiser, wie ein vollständiger Boykott von Erdgas aus Russland aus? Dies betrifft die Angebotsseite. Die verschiedenen Gasbedarfe wiederum (Nachfrageseite) verändern sich durch Faktoren wie das Bestreben, Klimaziele einzuhalten, den Ersatz von Gaskraftwerken für die Stromerzeugung durch erneuerbare Energie, eine gesteigerte Effizienz und die Erdgassubstitution mit Biomethan.
Wichtiges Fazit
Das wichtigste Ergebnis der Studie lautet: Wenn die EU auf russisches Erdgas verzichtet, begibt sie sich in neue Abhängigkeiten, die teilweise wirtschaftlich bedenklich und teilweise genauso prekär wie die Abhängigkeit von Russland sind. Wirtschaftlich bedenklich wäre eine hohe Abhängigkeit von den USA, denn zumindest übergangsweise könnten bis zu 90 % der vorher aus Russland bezogenen Gasmenge künftig aus den USA kommen. Die prekäre Abhängigkeit wäre die von den arabischen Staaten mit ihrer dramatisch schlechten Menschenrechtssituation. Wenn von dort anstatt aus Russland künftig das Gas kommt, hieße das den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, wie Kritiker anmerken.
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