Europa befindet sich seit zwei Jahren im Krisenmodus, vielleicht sogar noch länger, wenn man die Große Rezession nach 2008 und den Brexit mitzählt. Die jüngste Krise ist wohlbekannt: Energie. Die andere ist die der Lebensmittel und der für ihren Anbau benötigten Ressourcen, wie Öl und Gas. Diese Krisen sind auf das Versagen der Politik und den russischen Krieg mit der Ukraine zurückzuführen. Dies ist die jüngste in einer Reihe von „Errungenschaften“ der EU. Das Wirtschaftsmagazin Forbes bezeichnet dies als „einen Schuss ins eigene Bein“ (Forbes, 19.09.2022).
Große Düngerproduzenten stellen Produktion wegen zu hohen Kosten ein
Am 25. August teilte das norwegische Unternehmen Yara International mit, dass es die Produktion von Stickstoffdünger drosselt. Der Grund: steigenden Erdgaspreise. Dies hat den Druck auf die Lebensmittelinflation in einer von hohen Rohstoffpreisen geplagten Region weiter erhöht (Bloomberg, 25.08.2022).
Andere Düngemittelfirmen in Europa stellen aufgrund der hohen Inputkosten – vor allem für Erdgas – vorübergehend ihre Tätigkeit ein. Die Situation wird noch schlimmer, weil Gazprom kein Gas mehr über Nord Stream liefert. Dies ist Putins Strafe für die Unterstützung der Ukraine durch Europa.
Dennoch sind die Erdgaspreise in letzter Zeit gesunken. Spekulanten ziehen nach dem enormen Preisanstieg in diesem Jahr ihre Gelder ab. Die Aufhebung des Fracking-Verbots im Vereinigten Königreich und Gerüchte über eine Rückkehr zur Kernenergie haben ebenfalls zur Preissenkung beigetragen.
Die Erdgaspreise werden weiter sinken müssen. Sie liegen immer noch um mehr als 100 Euro pro Megawattstunde über dem Stand vom Juni.
Europas Energiekrise verwandelt sich in eine Nahrungsmittelkrise
Die polnischen Unternehmen Grupa Azoty und PKN Orlen kündigten im August an, die Produktion von Stickstoffdüngern einzustellen, ebenso wie Yara. Das britische Unternehmen CF Fertilizers hat seine Düngemittelproduktion erst im September 2021 eingestellt. Das Unternehmen begründet dies mit den mit fossilen Brennstoffen verbundenen Inputkosten.
Ein Meinungsartikel in Newsweek vom 6. September trifft den Nagel auf den Kopf: Europas Energiekrise verwandelt sich in eine Nahrungsmittelkrise (Newsweek, 06.09.2022).
Etwa 70 % der Kosten für die Herstellung von Düngemitteln entfallen auf den Preis von Erdgas.
Nach Angaben der CRU Group, einem auf Rohstoffe spezialisierten Wirtschaftsinformationsunternehmen, verlieren die Düngemittelhersteller in der EU etwa 2.000 Dollar für jede Tonne Ammoniak, die sie produzieren. (Ammoniak, das aus einem Stickstoff- und drei Wasserstoffatomen besteht, ist ein wichtiger Bestandteil bei der Herstellung von Düngemitteln). Anfang 2021 kostete eine Tonne Ammoniak die Landwirte in Westeuropa etwa 250 Euro pro Tonne. Derselbe Dünger wird heute für etwa 1.250 Euro pro Tonne verkauft (CRU, 25.08.2022).
Russland ist in fast jeder Hinsicht au dem Markt Ausgesperrt
Russland ist vom Markt ausgeschlossen. Die höheren Preise, die für seine Produkte – wie Düngemittel – erzielt werden, bedeuten, dass die russischen Unternehmen die Sanktionen vorerst überstehen.
Auf Russland entfallen etwa 10 % der Weltproduktion und 20 % des internationalen Düngemittelhandels. Eine Vereinbarung der Vereinten Nationen von Anfang September zur Freigabe von ukrainischen und russischen Düngemittel- und Getreidelieferungen in den Schwarzmeerhäfen war der bisher größte Durchbruch in diesem Krieg. Die russische Regierung erklärte, die Vereinbarung sei nicht ausreichend. Sie trägt nur wenig zur Beseitigung von Beschränkungen und Engpässen in der Lieferkette bei (reuters, 14.09.2022).
Es gibt keine direkten Verbote für russischen Dünger, aber es gibt indirekte Sanktionen – wie z. B. Sanktionen gegen einzelne Firmeneigentümer, Führungskräfte in diesen Unternehmen, Finanzen, Maschinen, Ersatzteile und logistische Sanktionen gegen Lieferungen auf dem See- und Schienenweg durch die baltischen Staaten.
Russland hatte sich im März für die Sanktionen gegen Europa revanchiert, indem es die Ausfuhr von Düngemitteln vorübergehend einstellte. Das Land änderte seine Haltung, als klar wurde, dass Kunden in anderen Ländern, die diesen Dünger über Europa abnehmen könnten, in große Schwierigkeiten geraten würden – zum Beispiel in Afrika.
Russland hat bereits in der Vergangenheit Beschränkungen für seine Düngemittelausfuhren verhängt. Dies geschah im November 2021, um die Versorgung der örtlichen Landwirte zu sichern (ICIS, 03.11.2021).
Der Düngemittelmarkt signalisierte damals keine Krise, weil die Erdgaspreise nicht aus dem Ruder zu laufen drohten. Das war vorbei, als im Februar der Krieg in der Ukraine ausbrach.
Baltische Staaten sind Nadelöhr beim Import von russischem Dünger
Seitdem wurden zahlreiche russische Düngemittel und die für ihre Herstellung benötigten Rohstoffe über Umwege vor allem nach Lettland, Litauen und Estland geschafft. Diese drei baltischen Staaten befanden sich in den letzten 10 Jahren in einem Kalten Krieg mit Russland. Der Eisenbahntransit durch diese Länder sowie der Umschlag in ihren Häfen ist eingeschränkt. Dies ist eine der Hauptrouten für die Lieferung von russischem Dünger nach Europa. So sitzen beispielsweise 80.000 Tonnen Düngemittel im Hafen von Estland fest und stellen eine große Gefahr für die örtliche Bevölkerung dar (ERR, 15.08.2022).
Russland verfügt nicht über die Hafenterminals, um diese Beschränkungen zu umgehen. Die Lieferkette wurde für den Vertrieb über das Baltikum eingerichtet und kann nicht ohne weiteres geändert werden. Russland verfügt dort auch nur über begrenzte Exportkapazitäten.
Am 10. August 2022 veröffentlichte die Handelskommission der Europäischen Union ein Update zu den Russland-Sanktionen. Die aktualisierten FAQ enthielten Regeln für die Beförderung bestimmter Güter aus Russland, darunter Kohle und andere feste fossile Brennstoffe sowie Düngemittel. Versicherer und Schifffahrtsunternehmen wurden darauf hingewiesen, dass die Verbote für Unternehmen, die sich um die Ausfuhr bestimmter Düngemittel kümmern, für Sendungen in der ganzen Welt gelten. Diese Sanktionen erstrecken sich auch auf Finanzierungen und Versicherungen von EU-Unternehmen. Dies gilt unabhängig von der Herkunft des Unternehmens, das den Transfer durchführt. Das bedeutet, dass ein in Europa ansässiges Unternehmen, das Rohstoffe in Russland bezieht, einem Sanktionsrisiko ausgesetzt wäre. Damit befinden sich russische Düngemittel in einer Art Halb-Illegalität. Der Zugang zu den Seerouten ist ein Alptraum wegen vielen Vorschriften. Das ukrainische Getreide verlässt nun das Land und findet seinen Weg nach Europa.
Die größten russischen Düngemittelfirmen – auf welche keine Sanktionen verhängt wurden – sind auch finanziell an der Ausübung ihrer Geschäftstätigkeit gehindert. Die Bankkonten der Firmen wurden in Europa eingefroren. In einigen Fällen nehmen europäische Banken nur widerwillig Zahlungen an, weil sie befürchten, mit Sanktionsstrafen belegt zu werden.
Sanktionen gegen Einzelpersonen verhindern ebenfalls Handel mit Russland
In einigen Fällen machen persönliche Sanktionen gegen Personen, die mit Unternehmen verbunden sind, den Handel unmöglich oder für Importeure weniger attraktiv. Vladimir Rashevskiy trat am 15. März 2022 als Chief Executive Officer der EuroChem Group zurück, nachdem die EU Sanktionen verhängt hatte (EuroChem, 16.03.2022).
Der Gründer des Unternehmens, Andrey Melnichenko, wurde ebenfalls mit Sanktionen belegt. Die offizielle Haltung der Schweiz gegenüber dem Unternehmen aufgrund der Sanktionen gegen diese beiden Personen lautete: Wenn das Unternehmen scheitert, scheitert es.
„EuroChem ist als Schweizer Unternehmen rechtlich verpflichtet, das Schweizer Recht einzuhalten, einschließlich der Sanktionen“. Das erklärte das Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft im Juni gegenüber Reuters. „Es liegt an EuroChem, die notwendigen Maßnahmen im Rahmen des Schweizer Rechtssystems zu ergreifen, um das Fortbestehen des Unternehmens zu ermöglichen.“ (reuters, 10.06.2022)
Samir Brikho, der Vorsitzende von Eurochem, sagte folgendes zur Sanktionspolitik. „Wir nehmen die Ankündigungen der Europäischen Kommission der letzten Tage zur Kenntnis, aber wir haben noch keinen Schutz erfahren und sehen eine Diskrepanz zwischen den Zielen der EU und der Realität“. EuroChem ist damit nicht allein.
Uralkali, einer der weltweit größten Kaliproduzenten, ist ebenfalls von Sanktionen befreit, nicht aber sein Hauptaktionär, der Milliardär Dmitri Mazepin, ein bekannter Formel-1-Fan. Er gab im März die Kontrolle über das Unternehmen ab und reduzierte seinen Anteil auf 48 % (reuters, 14.04.2022).
Der CEO von PhosAgro, Andrey Guryev, musste dasselbe tun. Auch er ist sanktioniert.
Alle Parteien versuchen das Problem zu lösen, aber das kann dauern
Am 20. August 2022 kündigte UN-Generalsekretär Antonio Guterres an, dass die Vereinten Nationen mit den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union zusammenarbeiten. Man versucht die Hindernisse für russische Düngemittel auf den Weltmärkten zu beseitigen.
„Es gibt eine Reihe von Hindernissen und Schwierigkeiten, die in Bezug auf den Transport, die Versicherung und die Finanzierung überwunden werden müssen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass mehr Lebensmittel und Düngemittel aus der Ukraine und Russland herauskommen, um die Rohstoffmärkte weiter zu beruhigen und die Preise für die Verbraucher zu senken“, sagte er.
Die größten russischen Unternehmen befürchten, dass die sanktionierten Führungskräfte, selbst diejenigen, die zurückgetreten sind oder ihr Eigentum aufgegeben haben, ihnen den Geschäftsverkehr mit Europa erschweren werden.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte am 6. September, dass er mit den Vereinten Nationen über die Lebensmittel- und Düngemittelproblematik spreche, aber als Russlands wichtigster Befürworter des Krieges in der Ukraine nicht glaubwürdig sei.
„Wir arbeiten weiter daran, eine Reihe von Hürden im Rahmen der bestehenden Sanktionsregelungen zu überwinden, um den Export von russischem Getreide und Dünger zu erleichtern“. Das sagte UN-Sprecher Stephane Dujarric Anfang des Monats.
Letzten Monat zitierte die Nachrichtenagentur Interfax den russischen Handelsminister Denis Manturow mit der Aussage, dass die Düngemittelausfuhren in der ersten Jahreshälfte um 7 % zurückgegangen seien (International Business Times, 09.06.2022).
Russische Düngerfirmen machen trotz Sanktionen Rekord Gewinne
Aber dank der höheren Preise geht es den russischen Unternehmen gut. Diese sind für US-Anleger tabu. PhosAgro, das früher an der Londoner Börse gehandelt wurde und zusehen musste, wie sein Aktienkurs von einem Höchststand von 23,64 GBP am 16. Februar auf 0,05 Pfund einbrach. Dennoch gab das Unternehmen in seiner Gewinnmitteilung vom 18. August bekannt, dass der Umsatz im ersten Halbjahr 2022 um 90,9 % auf 336,5 Mrd. RUB (4,4 Mrd. Euro) gestiegen ist. Der Düngemittelabsatz stieg im Jahresvergleich um 10,2% auf fast 5,7 Millionen Tonnen
Das ist allerdings kein Geldsegen für die Putinsche Kriegsmaschinerie. Die Erlöse aus dem Düngemittelverkauf machen ein Zehntel Prozent des russischen Haushalts aus. Die Sanktionierung von Düngemittelherstellern, während Europa und die ganze Welt Hunger auf Düngemittel haben, ist so sinnvoll wie ein Schuss in den eigenen Fuß.