Energiepreise explodieren, die Nachfrage bleibt schwach – immer mehr Chemiekonzerne verlagern ihre Produktion. Europas industrielle Basis wankt. Besonders die Basischemie gerät unter Druck. In Deutschland kündigten sechs Chemiekonzerne allein in diesem Jahr die Stilllegung großer Anlagen an. Rund 2000 Arbeitsplätze stehen vor dem Aus (handelblatt: 09.07.25).
Rückzug der Chemiekonzerne beschleunigt sich
Dow Chemical trifft es besonders hart: Zwei Großanlagen in Sachsen sollen verschwinden. Shell, Sabic und Total Energies planen ebenfalls Kürzungen. In Antwerpen, Gladbeck und den Niederlanden schließen zentrale Standorte. Ineos befürchtet: „Die Grundchemie kämpft ums Überleben.“ Gründer Jim Ratcliffe warnt vor einer gefährlichen Abhängigkeit von außereuropäischen Lieferanten.

Auch der Verband der Chemischen Industrie (VCI) schlägt Alarm. Basischemie gilt als Rückgrat der europäischen Industrie. Bricht sie weg, fehlen nicht nur Produkte, sondern ganze Produktionsketten drohen zu zerreißen. Die EU kündigt Gegenmaßnahmen an, doch viele Entscheidungen fallen längst in Übersee.
Chemiekonzerne weichen in günstigere Regionen aus
Dow sieht in Deutschland keine Perspektive mehr. Die Cracker-Anlage in Böhlen sowie eine Chlor-Alkali-Vinyl-Anlage stehen vor dem Aus. 550 Arbeitsplätze gehen verloren. Ähnlich drastisch handelt Total Energies: Der französische Konzern legt eine seiner beiden Großanlagen in Antwerpen still. Sabic aus Saudi-Arabien prüft alle europäischen Standorte – mit ersten Schließungen in den Niederlanden.
Auch Bayer zieht Konsequenzen: Ein Werk in Frankfurt verschwindet, 500 Stellen betroffen. BASF hat in Ludwigshafen bereits wichtige Grundchemikalien aus dem Portfolio genommen. Shell denkt über einen kompletten Ausstieg aus der europäischen Petrochemie nach.
Keine Wettbewerbsfähigkeit trotz Klimazielen
CDU-Europaabgeordneter Christian Ehler kritisiert den EU-Kurs deutlich: „Der Green Deal der vergangenen Legislaturperiode hat gut gemeinte Klimaziele gebracht, aber keinen Business Case für die Industrie.“ Laut VCI wurden seit 2021 über 13 Millionen Tonnen Chemiekapazität stillgelegt.
Die EU-Kommission reagiert nun mit einem Aktionspaket: Weniger Regulierung, gezielte Standortförderung und neue Handelsstrategien sollen die Wende bringen. Doch die Kostenstruktur bleibt problematisch. Europa zahlt beim Erdgas etwa das Vierfache im Vergleich zu den USA. Das zerstört jeden Preisvorteil.
Marktkräfte sprechen gegen Europas Standorte
Alte Anlagen, hohe Energiepreise, fehlende Nachfrage: Für viele Investoren ist Europa kein attraktiver Produktionsstandort mehr. In den USA, dem Nahen Osten und in China entstehen moderne Petrochemiestandorte mit besseren Kostenbedingungen.
Die EU verspricht Entlastung – etwa durch weniger Vorschriften bei Verpackung, Stoffklassifikation und durch gezielte Ausnahmen beim PFAS-Verbot. Einsparungen in Höhe von jährlich 363 Millionen Euro sollen die Industrie stärken. Doch Branchenmanager bleiben skeptisch.
China drückt mit Billigchemie auf den Markt
Die Hoffnung auf steigende Nachfrage in China blieb bislang aus. Stattdessen überschwemmen chinesische Anbieter den Weltmarkt mit Massenchemie. Die Preise verfallen, europäische Produzenten geraten weiter unter Druck. Ratingagenturen wie S&P erwarten eine langfristige Verdrängung der europäischen Produktion.
Ökonomin Monika Schnitzer sieht im Wandel dennoch eine Chance. Aus ihrer Sicht lässt sich Basischemie effizient importieren. Die Industrie verweist hingegen auf Sicherheitsrisiken und unterbrochene Prozessketten.
Ohne Grundchemikalien kein industrieller Fortschritt
Der VCI erinnert: „Die Basischemie ist das Fundament der industriellen Wertschöpfung in Europa.“ Ohne Grundstoffe geraten viele Industrien ins Wanken – von der Bauwirtschaft bis zur Automobilbranche.
Besonders kritisch zeigt sich die Lage in Ostdeutschland. Nach dem angekündigten Rückzug von Dow droht die komplette Prozesskette zu kippen. „Wenn der Cracker abgeschaltet werden sollte, fallen vor- und nachgelagerte Anlagen wie die Dominosteine“, warnt IGBCE-Chef Michael Vassiliadis. Der Verlust ganzer Wertschöpfungsketten rückt näher.
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