Führende Manager der Chemieindustrie befürchten, dass die Bürokratie in Europa und die verlockenden Angebote aus den USA dazu führen könnten, dass die Produktion in Europa abwandert. Dies liegt nicht nur an den hohen Energiekosten, sondern auch an der Gefahr einer Kettenreaktion, die den Verlust der Innovationskraft zur Folge haben könnte (Handelsblatt: 28.04.23).
Evonik-CEO – Chemieindustrie in Europa erstickt
Derzeit wird der CEO von Evonik, Christian Kullmann, von ausländischen Politikern stark umworben, die den Essener Chemiekonzern in ihr Land locken möchten. Kullmann berichtet, dass er diesbezüglich Erfahrungen in den USA und Asien gemacht habe, jedoch nicht in Europa. Grund dafür sei ein gefährlicher Mix aus Überregulierung, Bürokratie und hohen Energiekosten, der dazu führe, dass die Industrie in Europa erstickt. Es überrasche ihn nicht, wenn Unternehmen der Chemieindustrie dem Ruf in die USA folgen würden.
Kullmann ist nicht der einzige Topmanager, der vor der Abwanderung der Produktion aus Europa warnte. Die Chemiebranche befindet sich laut Kullmann mitten in einer „industriellen Revolution“, die der Schlüssel für die grüne Transformation der gesamten Wirtschaft sei. Weltweit steige die Nachfrage nach nachhaltiger Chemie enorm an.
Allerdings bezweifeln mittlerweile viele Branchenvertreter, ob diese Revolution tatsächlich an europäischen Standorten stattfindet, wie es die Politik sich wünscht. Trotzdem unterstützt die Mehrheit der Chemiebranche das Ziel, Europa bis 2050 klimaneutral zu machen, und einige Konzerne haben sogar noch ehrgeizigere Pläne.
Chemieindustrie in Europa durch 15.000 Seiten EU-Regulierungsvorschriften ausgebremst
Anno Borkowsky, Vorstandsmitglied des Kölner Chemiekonzerns Lanxess, lobte die Idee des Green Deals als richtig und durchdacht. Allerdings erwachsen aus solch wichtigen Projekten immer wieder gigantische Bürokratiemonster. Auch BASF-Vorständin Melanie Maas-Brunner findet es unverständlich, wie ein Chemie-Mittelständler auf Basis von 15.000 Seiten Regulierungsvorschriften aus Brüssel ein zukunftssicheres Geschäft planen soll. Im Gegensatz dazu werde die Industrie in den USA durch die Regierung mit dem Inflation Reduction Act (IRA) bei der Förderung des grünen Umbaus unterstützt.
Maas-Brunner ist überzeugt, dass Europa einiges vom IRA lernen und übernehmen könnte. Viele internationale Managerinnen und Manager sehen das ähnlich. Für sie beginnt das Problem bereits mit der Wahrnehmung der Chemieindustrie.
Julia Schlenz, Deutschlandchefin des amerikanischen Chemiekonzerns Dow, beobachtet, dass die USA die Rolle der Chemieindustrie als zentral für die Lösung der Klimaproblematik betrachten. Dies zeige sich insbesondere bei den Förderungen und Anreizen, die die Politik für die Industrie setzt. Dabei geht es nicht nur um Subventionen für den Bau von Anlagen, sondern auch um marktwirtschaftliche Anreize wie Steuererleichterungen für den Betrieb von grünen Produktionsstätten.
Europäisches Denken behindert Klimaneutralität der Industrie im Gegensatz zum US-amerikanischen Ansatz
Dieser betriebswirtschaftliche Ansatz steht im Gegensatz zum staatsgläubigen europäischen Denken, kritisiert Evonik-Chef Kullmann. In Europa versuchten Beamte in Berlin und Brüssel den Unternehmen vorzuschreiben, wie sie den besten Weg in die Klimaneutralität gestalten sollen. Dabei könne die Industrie vom US-amerikanischen Ansatz viel lernen.
In der Tat sind auch die USA nicht frei von Vorschriften für Unternehmen. Neben Steuererleichterungen gibt es im Rahmen des IRA auch Sanktionen, wenn die Produktion nicht zu einem großen Teil in den USA stattfindet.
Einige betrachten dies als eine Fortsetzung der „America First“-Politik unter Präsident Joe Biden, die auf Kosten der exportierenden deutschen Unternehmen geht. Deutsche Außenpolitiker warnen vor dieser Ansicht, sehen aber Bedarf für Gespräche.
Anna Lührmann, Staatsministerin im Auswärtigen Amt, begrüßt, dass auch die USA die Bedeutung des Klimaschutzes erkannt haben. Sie betont jedoch die Notwendigkeit konstruktiver Gespräche, um die negativen Auswirkungen des IRA auf Europas Industrie abzumildern.
Lührmann warnt vor einem Protektionismus-Wettbewerb mit den USA und schlägt vor, mit möglichst vielen Industrienationen gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, um den grünen Umbau der Industrie auf einer fairen Basis zu fördern.
US-Industrie lockt: Viele Unternehmen planen Präsenzausbau in den USA
Laut einer Umfrage der deutsch-amerikanischen Handelskammer beabsichtigen etwa 40 % der in Amerika tätigen Unternehmen, ihre Präsenz in den USA bald auszubauen. Dieser Schritt ist nicht nur auf Subventionen zurückzuführen, sondern auch auf die Wiederbelebung der US-Industrie insgesamt. Aufgrund der geopolitischen Spannungen mit China richten westliche Unternehmen ihren Fokus wieder stärker auf die Vereinigten Staaten, wo sie auf Planbarkeit und Rechtssicherheit stoßen. Hinzu kommen die niedrigeren Energiepreise, die insbesondere für die Chemieindustrie wichtig sind. Obwohl die Gaspreise in Europa in letzter Zeit deutlich gesunken sind, sind sie immer noch vier- bis fünfmal höher als in den USA, wo viel Gas durch Fracking gewonnen wird.
Das Gesamtpaket macht es für Unternehmen schwierig, Europa als Standort treu zu bleiben. Der US-Konzern Dow plant die Elektrifizierung seiner Anlagen weltweit voranzutreiben, auch in Deutschland, wo wichtige Partner und Kunden ansässig sind, wie Deutschlandchefin Schlenz erläutert. „Aber wenn Planungsunsicherheit und Energiekosten so hoch sind wie in Europa, ist es schwierig, im internationalen Kontext hier ein Investment zu rechtfertigen.“
Chemie-CEOs fordern günstigere Energie.
Die meisten Chemiemanager sind nach wie vor zuversichtlich, dass Europa eine weltweit führende Rolle beim grünen Umbau spielen kann. Conrad Keijzer, CEO des Schweizer Unternehmens Clariant, betont, dass es bereits gute Technologien und Konzepte gibt und dass nun die Umsetzung beschleunigt werden muss, um den Vorsprung nicht zu verlieren. BASF-Vorständin Saori Dubourg ist sich sicher, dass Nachhaltigkeit ein riesiger Wachstumstreiber sein kann, wenn es richtig angepackt wird. Um dies zu erreichen, braucht es weniger Bürokratie, schnellere Genehmigungsverfahren und vor allem günstigere Energie. Laut Christian Hartel, Vorstandschef der Münchener Wacker Chemie, braucht die Branche einen wettbewerbsfähigen Industriestrompreis möglichst schnell und nicht erst im Jahr 2030. Die Chemie-CEOs befürchten ansonsten eine Kettenreaktion: Wenn die Produktion ins Ausland verlagert wird, geht mit der Zeit auch das Forschungswissen und damit die Innovationskraft verloren.