Verdeckte Armut: Tatsächliche Armutsquote in Deutschland deutlich höher als offizielle Zahlen

Dreißig renommierte Armutsforscher kritisieren das Statistische Bundesamt heftig. Anlass ist die Streichung einer Berechnungsmethode, durch die über eine Million Menschen offiziell nicht mehr als arm gelten. Fachleute wie Ulrich Schneider, langjähriger Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, und der Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge wandten sich in einem Protestbrief direkt an Behördenchefin Ruth Brand. Beide werfen den Statistikern vor, zentrale Daten zur Armutsquote manipulativ verkürzt zu haben. Schneider, der Vorgang sei „brisant“. Nach der neuen Berechnung lag die Armutsquote 2023 bei 15,5 Prozent, während die frühere Methode 16,6 Prozent auswies (zeit: 14.08.25).

„Die Armut sei damit mal eben um mehr als eine Million Menschen geringer“, betonte er. „Da drängt sich schon die Frage nach Manipulation oder doch zumindest einem interessengeleiteten Vorgehen auf.“


Armutsquote und wissenschaftliche Freiheit

Die Forscher kritisieren, dass Ergebnisse der zweiten Methode nicht mehr zugänglich sind. Nach ihrer Darstellung seien diese sogar rückwirkend entfernt worden. In ihrem Schreiben sprechen die Unterzeichner von „einem nicht akzeptablen Eingriff in die wissenschaftliche Freiheit“. Zudem heiße es dort, es gleiche „behördlicher Willkür, wenn ein Bundesamt Ergebnisse von allgemeinem wissenschaftlichen und öffentlichen Interesse zurückhält und damit die gesamte Fachdiskussion und öffentliche Rezeption beschneidet“. Daher fordern sie, dass die gelöschte Berechnung erneut veröffentlicht wird.

Debatte um die Armutsquote: Forscher werfen dem Statistischen Bundesamt vor, Armut in Deutschland durch neue Berechnungen kleiner zu rechnen
Debatte um die Armutsquote: Forscher werfen dem Statistischen Bundesamt vor, Armut in Deutschland durch neue Berechnungen kleiner zu rechnen

Als armutsgefährdet gilt laut Definition, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Doch die Methoden unterscheiden sich stark. Besonders bei der Erfassung des Haushaltsnettoeinkommens setzen die Verfahren unterschiedliche Maßstäbe. Das Bundesamt begründet die Änderung mit dem Ziel einer besseren EU-weiten Vergleichbarkeit. Dabei würden Einkommensarten detailliert einzeln abgefragt, statt nur als Gesamtsumme. Nach Ansicht der Behörde könne dadurch vermieden werden, dass staatliche Leistungen wie Kindergeld, Kinderzuschlag, Bafög, Pflegegeld oder Wohngeld nicht korrekt einfließen.

Widerspruch der Fachwelt

Die Armutsforscher halten diese Begründung für unzureichend. Ihrer Ansicht nach existiert keine fachliche Einigkeit, ob die neue Methode tatsächlich überlegen ist. Vielmehr betrachten sie die Umstellung als wissenschaftlich umstritten und politisch problematisch. Entscheidend sei, dass durch die Änderung eine gravierende Absenkung der offiziellen Armutsquote entsteht, die gesellschaftliche Realität aber unverändert bleibt.

Gleichzeitig warnen die Experten vor den Folgen für die öffentliche Diskussion. Wenn zentrale Zahlen geschönt erscheinen, schwächt dies das Vertrauen in unabhängige Statistik. Zugleich entsteht die Gefahr, dass politische Entscheidungsträger die Problemlage unterschätzen. Besonders Sozialverbände, die seit Jahren auf steigende Armut hinweisen, sehen sich durch die gekürzten Daten in ihrer Arbeit behindert.


Gefahr für Glaubwürdigkeit der Statistik

Die Forscher pochen deshalb auf Transparenz. Beide Berechnungswege müssten zugänglich bleiben, um Vergleiche zu ermöglichen und Debatten auf einer breiten Datenbasis zu führen. Nur so ließe sich verhindern, dass Verdacht auf Einflussnahme entsteht. Denn Statistiken, die gesellschaftliche Realität abbilden, dürfen nicht nach politischem Nutzen ausgewählt erscheinen.

Damit steht das Bundesamt im Zentrum einer Debatte über Glaubwürdigkeit. Während es auf europäische Harmonisierung verweist, bleibt der Verdacht bestehen, dass kritische Armutszahlen gezielt aus dem Blickfeld verschwinden. Für die Unterzeichner des Protestbriefs ist klar: Ohne unabhängige Daten verliert die Gesellschaft die Grundlage für eine offene Diskussion über soziale Ungleichheit.

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