Am Samstag werden die letzten verbliebenen Atomkraftwerke Deutschlands abgeschaltet und markieren damit einen Wendepunkt in einem Land, das der Atomenergie seit langem skeptisch gegenübersteht. Die einen sehen es als Triumph der Anti-Atombewegung die anderen als Wahnsinnsakt. Eine Betrachtung aus dem Ausland in der Financal Times (FT: 13.04.23)
Abschaltung von Atomreaktoren in Deutschland nach russischem Gas-Streit: Triumph für Aktivisten oder Wahnsinnsakt?
Anti-Atom-Aktivisten haben die Abschaltung von drei Reaktoren als Triumph gefeiert, nachdem Wladimir Putins Einmarsch in die Ukraine im vergangenen Jahr Berlin gezwungen hatte, nach Alternativen zu russischem Gas zu suchen. Kritiker halten den Shutdown für einen Wahnsinnsakt in einer Zeit, in der die Energieversorgung Europas prekär bleibt und sich die Welt von fossilen Brennstoffen verabschieden will.
Deutschland beendet Ära der Atomkraft: Stilllegung von Atomreaktoren trotz Bedenken und Widerstand
Fast alle sind sich jedoch einig, dass es kein Zurück mehr gibt. „Wir fahren Weltklasse-Anlagen herunter, die seit Jahrzehnten sicher und zuverlässig von Weltklasse-Mitarbeitern und Experten betrieben werden“, sagte Leonhard Birnbaum, Vorstandsvorsitzender des deutschen Energieversorgers Eon, im vergangenen Monat der Zeitung „Handelsblatt“. Aber der Chef, dessen Firma Isar 2 in Bayern gehört, eine der drei, die stillgelegt werden, räumte ein, dass „die Ära der Atomkraft in Deutschland endgültig vorbei“ sei. Isar 2 in Bayern, einer der drei stillgelegten, räumte ein, dass „die Ära der Atomkraft in Deutschland endgültig vorbei“ sei.
Nach jahrzehntelangen Anti-Atom-Protesten kam 2011 der entscheidende Moment, als Bundeskanzlerin Angela Merkel – eine studierte Physikerin, die zuvor eine lautstarke Befürworterin der Atomkraft war – eine dramatische Wende vollzog, nachdem ein Tsunami die Kernschmelze von drei Reaktoren im japanischen Japan Kraftwerk Fukushima Daiichi verursacht hatte.
Deutscher Atomausstieg nach Fukushima: Merkel verkürzt Laufzeiten von Kernkraftwerken trotz früherer Verlängerung
Merkel hob eine frühere Entscheidung auf, die Lebensdauer der Kernkraftwerke des Landes bis 2036 zu verlängern, und zog das Ausstiegsdatum auf 2022 vor. „Vor Fukushima . . . Ich war davon überzeugt, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass sich [ein Unfall] in einem Hightech-Land mit hohen Sicherheitsstandards ereignet“, sagte sie drei Monate nach der Katastrophe in einer Rede. „Jetzt ist es passiert.“
Die Anti-AKW-Bewegung in der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland geht auf die 1970er Jahre zurück, als eine Bürgerinitiative den Bau eines Atomkraftwerks im südwestlichen Weiler Wyhl erfolgreich stoppte. Atomunfälle auf Three Mile Island in den USA im Jahr 1979 und in Tschernobyl im Jahr 1986 haben diese Bewegung angeheizt und eine anhaltende Skepsis gegenüber der Technologie in weiten Teilen der Gesellschaft erzeugt.
Die deutsche Anti-Atomkraft-Bewegung: Herausforderungen und Erfolge im Kampf gegen die Atomenergie
Dolores Augustine, Autorin von „Taking on Technocracy: Nuclear Power in Germany, 1945 to the Present“, sagte, dass einige externe Beobachter die Anti-Atom-Haltung Deutschlands als ein unvermeidliches Produkt eines Landes betrachteten, das manchmal als ein Ort voller „Birkenstock-Typen“ stereotypisiert wird. Aber sie sagte, dass der Erfolg der Anti-Atom-Aktivisten alles andere als garantiert sei, da sie Deutschlands mächtige Industriegiganten und viele seiner Politiker und Wissenschaftler herausforderten.
Weitere Faktoren, die zum Erfolg der deutschen Bewegung beigetragen haben, waren die Neigung des Staates zu einer leichteren Polizeiarbeit nach den Exzessen der Nazizeit und ein dezentralisiertes, konsensuales politisches System. Die Bewegung brachte 1980 auch die Geburtsstunde der erfolgreichsten Grünen Partei in Europa. „Die meisten Bewegungen verpuffen“, sagte Augustine. „Aber bei der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung gibt es eine erstaunliche Kontinuität, wo eine Generation an die nächste übergibt.“
Debatte über Energieunabhängigkeit und CO₂-Emissionen nach Putins Einmarsch in die Ukraine
Doch Putins Einmarsch in die Ukraine im vergangenen Jahr hat die Debatte über die Vorzüge der Atomkraft entfacht. Nachdem Deutschland zuvor mehr als die Hälfte seines Erdgases aus Russland importiert hatte, sah es sich mit steigenden Energiepreisen und Warnungen vor Stromausfällen konfrontiert. Andere Länder in Europa, insbesondere Frankreich und die mittel- und osteuropäischen Länder, befürworten nach wie vor ausdrücklich die Atomkraft als Möglichkeit, ihre Energieunabhängigkeit zu festigen und gleichzeitig die CO₂-Emissionen zu senken.
Auch in Deutschland änderte sich die öffentliche Meinung nach dem Einmarsch Putins in die Ukraine. Eine vom Magazin „Der Spiegel“ in Auftrag gegebene Umfrage vom August 2022 ergab, dass 67 Prozent der Deutschen eine Verlängerung der Kernkraftwerke des Landes um fünf Jahre befürworten. 41 Prozent befürworteten den Bau neuer Werke. In einer ähnlichen Umfrage vor drei Jahrzehnten sagten nur 3 Prozent Ja.
Kontroverse um Deutschlands Ausstieg aus der Kernenergie
Doch die deutschen Grünen, jetzt Teil der Drei-Wege-Koalition von Olaf Scholz, mischten sich ein und einigten sich nur darauf, die Abschaltung um ein paar Monate zu verschieben, um die durch die winterliche Energiekrise verursachte Lücke zu schließen. Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck argumentierte, dass die drei verbleibenden Anlagen, die Anfang 2022 etwa 6 Prozent der Stromversorgung des Landes erzeugten, wenig an den Bemühungen zur Einsparung von Erdgas geändert hätten.
Der Weg Deutschlands zum Ausstieg aus der Kernenergie, der Rückgriff auf fossile Brennstoffe als Notlösung bei gleichzeitig massivem Ausbau der Erneuerbaren, ist höchst umstritten. Das Land hat nach der Invasion in der Ukraine eingemottete Kohlekraftwerke wiedereröffnet – eine Entscheidung, die scheinbar im Widerspruch zu den Zusagen steht, die Kohle bis 2030 auslaufen zu lassen und bis 2045 klimaneutral zu werden. Der britische Umweltaktivist George Monbiot verglich letztes Jahr den Atomstillstand in Deutschland mit dem Brexit und beschrieb ihn als „einen unnötigen Akt der Selbstverletzung, angetrieben von Fehlinformationen und irrationaler Schuldzuweisung“.
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