Europa steckt in einem gefährlichen Wettlauf um die Zukunft seiner Energieversorgung. Der Solarboom treibt die Stromerzeugung in Rekordhöhen, doch das Stromnetz hinkt hinterher. Während überall neue Anlagen ans Netz gehen, fehlt es an Infrastruktur, um die Energie sicher zu verteilen. Ohne kluge Planung droht der große Blackout. Die fragile Netzstabilität wird so zu einer der größten Herausforderungen der Energiewende. In diesem Rennen zwischen Fortschritt und Überlastung geht es buchstäblich um Licht oder Dunkelheit (bloomberg: 28.10.25).
Alte Netze, neue Risiken
Der Solarausbau schreitet rasant voran. Laut BloombergNEF entstanden allein im Jahr 2024 über 69 Gigawatt neue Kapazität – mehr als viermal so viel wie vor zehn Jahren. Doch viele Leitungen stammen noch aus Zeiten, in denen Strom zentral in Großkraftwerken erzeugt wurde. Jetzt speisen Millionen privater und industrieller Anlagen dezentral ein, was das Energienetz stark belastet.

Jan Vorrink, ehemaliger Leiter des niederländischen Netzbetreibers Tennet, beschreibt die Situation treffend: „Der massive Zuwachs an Solarkraft treibt das System an seine Grenzen.“ Früher war die Leitstelle ruhig, heute zeigen blinkende Warnlampen regelmäßig Überlastungen an. Der technologische Wettlauf verschärft die Probleme täglich.
Der Wettlauf gegen die Spannung
Spannungsspitzen gehören mittlerweile zum Alltag der europäischen Netzbetreiber. 2024 registrierte der Verband Entso-e mehr als 8.600 Fälle, in denen die zulässigen Grenzwerte überschritten wurden – ein Anstieg um mehr als 2.000 Prozent seit 2015. In Spanien führte ein solcher Zwischenfall im Sommer zu einem landesweiten Stromausfall, der über 50 Millionen Menschen in Spanien und Portugal traf.
Untersuchungen ergaben, dass die plötzliche Abschaltung vieler Solaranlagen die Spannung zusätzlich steigen ließ. „Wir können es noch kontrollieren, aber es bleibt schwierig“, erklärt Vorrink. Der Wettlauf zwischen Erzeugung und Stabilität lässt Netzbetreiber kaum Zeit zum Durchatmen.
Marktverzerrungen durch zu viel Sonne
Nicht nur die Technik, auch der Markt gerät aus dem Gleichgewicht. Wenn das Angebot an Solarstrom die Nachfrage übersteigt, fallen die Preise unter null. 2023 lag in Deutschland bereits mehr als jede zwanzigste Handelsstunde im negativen Bereich. Betreiber zahlen dann teilweise dafür, dass sie Strom überhaupt einspeisen dürfen.
50Hertz-Chef Stefan Kapferer warnt: „Europa investiert weiter massiv in Solarkapazitäten, obwohl die Nachfrage stagniert. Das ergibt keinen Sinn.“ In Spitzenzeiten musste Deutschland Strom aus Polen übernehmen, um Überlastungen zu verhindern. Bleibt der Trend bestehen, drohen kontrollierte Abschaltungen einzelner Regionen, um teure Schäden an Transformatoren zu vermeiden.
Neue Technik für mehr Netzstabilität
Der Erhalt der Netzstabilität steht nun im Fokus vieler Netzbetreiber. Deutschland und Italien investieren in sogenannte synchrone Kompensatoren – riesige Maschinen, die mit rotierenden Massen Spannungsschwankungen ausgleichen. Moderne Wechselrichter in Solaranlagen könnten ebenfalls helfen, sofern ihre Software an die Netzbedingungen angepasst wird.
Ein Beispiel liefert Liverpool: Dort stabilisiert ein Kompensator im Wert von 25 Millionen Pfund das lokale Energienetz. Diese Technik könnte bald europaweit nötig werden, um die Systemstabilität zu sichern. Spanien verfügte am Tag seines Blackouts über keine einzige dieser Anlagen – ein entscheidender Faktor für das Desaster.
Europas Wettlauf um die Zukunft
Während China und die USA mehr Strom aus Solarenergie beziehen, wächst dort auch die Nachfrage durch Industrie und Rechenzentren. In Europa sinkt sie dagegen, vor allem seit der Energiekrise. Das verstärkt den Druck auf das Stromnetz. Zugleich strebt die EU bis 2040 eine Reduktion der Emissionen um 90 Prozent an. Ohne massiven Solarausbau ist dieses Ziel unerreichbar.
Doch die Energiewende bleibt ein Rennen gegen die Zeit. Der australische Energieexperte Mehdi Ghazavi Dozein warnt: „Der Weg zu 100 Prozent erneuerbarer Energie ist möglich, aber nur mit präziser Planung. Spanien wird nicht der letzte große Stromausfall gewesen sein.“
Ein Rennen, das Europa nicht verlieren darf
Der Wettlauf zwischen Ausbau und Sicherheit entscheidet über die Zukunft der europäischen Energieversorgung. Nur durch intelligente Netzmodernisierung lässt sich verhindern, dass Überlastungen zu dauerhaften Risiken führen. Der Solarboom hat Europa elektrisiert, doch ohne technische Anpassung drohen kostspielige Fehlentwicklungen.
Europa muss diesen Wettlauf gewinnen – bevor das Licht ausgeht.
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