Späte Reue in der einstigen Brexit-Hochburg

„Ich habe für den Brexit gestimmt, aber ich bereue es“, sagt Maria Yvars aus Grays. Beim Referendum 2016 hatte die Bevölkerung der ostenglischen Stadt mit überwältigender Mehrheit für den Austritt Großbritanniens aus der EU votiert. Doch drei Jahre nach dem Abbruch der Bande mit Brüssel am 1. Februar 2020 bedauern viele in der einstigen Brexit-Hochburg ihre Entscheidung.


Yvars fühlt sich von den Politikern betrogen. „Sie haben uns nicht alle Fakten genannt, sie haben uns Dinge erzählt, die nicht wahr sind“, kritisiert die 42-jährige  Psychologin. „Jetzt ist dieses Land wie ein Schiff ohne Kapitän“, sagt sie.

Nicht nur Boris Johnson, Anführer der Brexit-Kampagne, musste vergangenes Jahr om Amt des Premierministers zurücktreten. Auch seine Nachfolgerin Liz Truss ist längst wieder ausgeschieden, sie konnte sich nicht einmal sechs Wochen im Amt halten. Großbritannien taumelt von einer Krise in die nächste.

72,3 Prozent der Wähler stimmten im Wahlkreis Thurrock, dessen größte Stadt Grays ist, für den Brexit – so viele wie in kaum einem anderen Wahlkreis. Im ganzen Land lag die Zustimmung bei lediglich 52 Prozent. Der europaskeptische Populist Nigel Farage hatte 2015 Thurrock als Kulisse gewählt, um sein Manifest gegen die EU vorzustellen.

"Ich habe für den Brexit gestimmt, aber ich bereue es" - Viele Briten haben für den Brexit gestimmt, doch jetzt bereuen es viele
Späte Reue in der einstigen Brexit-Hochburg

Thurrock ist eine alte Industrieregion östlich von London an der Mündung der Themse. Viele Migranten aus Osteuropa leben dort. Zum Wahlkreis gehört auch die Stadt Tilbury mit einem der wichtigsten Containerhäfen des Landes. Die Region leidet seit Jahren unter wirtschaftlichen Problemen, und die aktuelle Krise mit einer Inflationsrate von über zehn Prozent verschlechtert die Lage weiter. Nach einer Reihe von Fehlinvestitionen ging die Regionalverwaltung im Dezember pleite.

In der Fußgängerzone im Zentrum von Grays reiht sich ein Billigladen mit Ein-Pfund-Artikeln an den anderen, dazwischen liegen Filialen von Wohltätigkeitsorganisationen und Wettbüros. „Dauerhaft geschlossen“ steht auf einem leeren Schaufenster.


Die Regierung schiebt die wirtschaftliche Misere auf die Corona-Pandemie und den Krieg in der Ukraine. Die Menschen in Thurrock machen aber zunehmend den Brexit dafür verantwortlich, der den Zugang zum europäischen Binnenmarkt über den Ärmelkanal abgeschnitten hat.

„Ja, ich habe für den Brexit gestimmt, und ich wünschte, ich hätte es nicht getan“, sagt eine Frau um die 50, die anonym bleiben will. Den meisten Menschen, die sie kenne, gehe es genauso. „Schauen Sie sich das Land an, es ist eine Katastrophe, nicht wahr?“

Laut einer im November veröffentlichten Umfrage des YouGov-Instituts war die Unterstützung für den Brexit im Vereinigten Königreich noch nie so gering. Weniger als ein Drittel der Briten halten demnach den Austritt aus der Europäischen Union noch für eine gute Entscheidung.

„Was haben die Brexit-Befürworter erwartet?“, fragt ein Mitarbeiter des staatlichen und kostenlosen Gesundheitssystems NHS in Grays, der gern in der EU geblieben wäre. „Wir haben EU-Gelder verloren!“ Die Rettung des NHS war Teil von Johnsons Brexit-Versprechen. Das Gesundheitssystem steht jedoch vor dem Zusammenbruch, die Beschäftigten streiken, zum ersten Mal sogar die Pflegekräfte


Großbritannien ist das einzige Land der G7-Gruppe, dessen Wirtschaft sich noch nicht wieder von der Pandemie erholt hat. Die Haushaltsaufsichtsbehörde OBR erwartet, dass der EU-Austritt die britische Wirtschaft langfristig um etwa vier Prozent schrumpfen lassen wird.

Elaine Read, eine 73-Jährige, die früher in London im Finanzwesen arbeitete, bereut den Brexit dennoch nicht. „Ich würde wahrscheinlich wieder dafür stimmen“, sagt sie. Durch Corona und den Krieg sei „so viel passiert, dass wir nicht die Gelegenheit hatten, die Vorteile des Brexit zu sehen“, argumentiert sie. „Ich bin immer noch für den Brexit“, sagt auch der ehemalige Hafenarbeiter Ray Yates. Aber die Besserung der Lage werde „Zeit brauchen, mindestens zehn Jahre“. Und gebraucht werde auch „eine neue Regierung“.

© Agence France-Presse

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