„Rollierender Lockdown“ wegen Gasmangel?

Der drohende Gasmangel könnte im kommenden Winter zu einem „rollierenden Lockdown“ führen, weil einzelne deutsche Regionen der Reihe nach zeitweise von der Energieversorgung abgekoppelt werden. Darauf weisen Experten hin. Ob es so weit kommt, weiß Deutschland nach dem 21. Juli 2022: Dann entscheidet sich, ob Russland nach der turnusmäßigen Wartung von Nord Stream 1 wieder Gas liefert. Aktuell (Stand: 11. Juli 2022) sind die nachfolgenden Überlegungen spekulativ. (heise; 10.07.2022).


Russisches Gas ist bislang unersetzbar

Deutschland unternimmt alle erdenklichen Anstrengungen, um russisches Gas durch LNG zu substituieren. Hinzu kommen die Aufforderungen und Anreize zum Energiesparen im Allgemeinen und Gassparen im Speziellen. Selbst Kohlekraftwerke werden nun wieder angeworfen, das Stilllegen der letzten drei deutschen Atommeiler steht in der Diskussion. Doch rein technisch werden wir russisches Gas in den nächsten 12 bis 18 Monaten nicht vollständig ersetzen können. Hierzu sprechen zwar der Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Grüne) und der Chef der Bundesnetzagentur Klaus Müller tägliche Warnungen aus, aber so ganz kann sich die breite Öffentlichkeit eine echte Notlage wegen fehlendem Gas wohl noch nicht vorstellen.

„Rollierender Lockdown“ wegen Gasmangel? Russisches Gas ist bislang immer noch unersetzbar
„Rollierender Lockdown“ wegen Gasmangel? Russisches Gas ist bislang immer noch unersetzbar

Es droht eine massive Rezession, weil die Industrie auf Gas angewiesen ist, es drohen kalte Wohnungen im Winter und ein Teilausfall der Stromversorgung, die auch auf Gaskraftwerke angewiesen ist. Die industrielle Rezession könnte über viele Jahre anhalten, weil Betriebe und ganze Branchen in Länder mit sichererer Energieversorgung abwandern könnten.


Logistische Probleme bei der Gassubstitution

Ein großes Problem hat die Industrie, die mit Gas Öfen betreibt und es für chemische Prozesse einsetzt. Betroffen sind die chemische Industrie, die Pharmabranche, die Lebensmittelindustrie (unter anderem Molkereien), die Kosmetikbranche, Glashersteller und viele weitere Branchen. Ein weiteres Problemfeld ist die Stromerzeugung. Gaskraftwerke lieferten 2021 in Deutschland 16 % des verbrauchten Stroms.

Nun sollen Kohlekraftwerke, die nur mehr in Reserve standen, wieder in Betrieb gehen. Sie müssen hierfür technisch überprüft, möglicherweise gewartet und in Einzelfällen teuer instand gesetzt werden. Sie brauchen Kohle. Deutschland fördert schon länger keine Steinkohle mehr, weil dies zu unrentabel wurde. Sie wird importiert und verschifft. Lastkähne transportieren sie über Flüsse zu den Kraftwerken. Die Flüsse führen zeitweise zu wenig Wasser. Um Mangellagen vorzubeugen, wurden nun die Kraftwerksbetreiber verpflichtet, in ihren Lagern in unmittelbaren Kraftwerksumfeld Kohle für 30 Tage vorzuhalten (bislang: 10 Tage).

Diese Vorratshaltung hat ab sofort jedes Kraftwerk zu betreiben, auch wenn es aktuell nur in Reserve steht. Die Kraftwerksbetreiber müssen für die viele Kohle Flächen finden und sich diese genehmigen lassen. Dies ist in Deutschland ein langwieriger Prozess. Selbst die Flächen sind knapp, denn viele von ihnen benötigt man gerade für die Lagerung von ukrainischem Weizen. Hinzu kommt: Die Logistikketten für Kohletransporte von den Seehäfen über die Flüsse zu den Kraftwerken wurden in den letzten Jahren reduziert, denn die Spediteure mussten ja mit dem Kohleausstieg rechnen. Es fehlen Lastkähne und für den letzten Teil der Strecke über Land auch Lokomotiven, speziell ausgebildete Lokführer und Güterwaggons.


Technische Probleme in den Kohlekraftwerken

Viele jetzt in Reserve stehende Kohlekraftwerke wurden zu einer Zeit stillgelegt, als noch weniger scharfe Immissionsgrenzschutzwerte galten. Auf die neuen Grenzwerte müssten sie umgerüstet werden, was langwierig und teuer ist. Möglicherweise ließen sich die Grenzwerte per Gesetz wieder absenken, womit politischer Protest vorprogrammiert wäre. Auch Fachkräfte für die früheren Kraftwerke fehlen, viele von ihnen sind inzwischen im Ruhestand. Nicht zuletzt brauchen auch Kohlekraftwerke zum Anfahren ihrer Blöcke Gas für die Zündung und Entschwefelung.

Rollierender Lockdown bei Gasmangel?

Es gibt bei einer echten Gasmangellage noch mehr Probleme. Diejenigen Betriebe und Haushalte, deren Gasthermen wegen zu geringem Gasdruck ausfallen, müssten per Hand wieder zugeschaltet werden – sofern wieder ausreichend Gas zur Verfügung steht. Da dies einige Tage dauern kann, würden diese Verbraucher alternativ mit Strom heizen, was das Stromnetz über seine Belastungsgrenze treiben könnte.


Zu all diesen technischen Problemen kommen die explodierenden Preise, die jetzt schon sehr hoch sind, sich aber nochmals verdoppeln bis verdreifachen könnten. Inzwischen erwägen einzelne Kommunen, für den kommenden Winter beheizte öffentliche Hallen für die Unterbringung von einkommensschwachen Personen bereitzustellen, die daheim nicht mehr heizen können. Sofern Russland nach dem 21. Juli 2022 wirklich kein Gas mehr liefert, sind solche Szenarien unausweichlich. Um nun einen technischen Kollaps des öffentlichen Stromnetzes zu verhindern, gibt es die Überlegung für einen rollierenden Lockdown: Reihum würde dann ab der kommenden Heizungsperiode in einzelnen deutschen Regionen stunden- oder gar tageweise der Strom abgeschaltet, um das Netz nicht zu überfordern.

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