Der Strommix in Deutschland hat sich im ersten Halbjahr 2022 zugunsten der erneuerbaren Energien verändert. Während ihr Anteil in einigen Bereichen wie der Photovoltaik deutlich zulegte, wurde viel weniger Strom aus Atomkraft und Erdgas erzeugt. Allerdings kommt knapp ein Drittel des deutschen Stroms aus Kohlekraftwerken. Dieser Anteil ist gegenüber dem Vorjahreszeitraum gestiegen (heise, 07.09.2022).
Ursachen für den neuen Strommix
Die Abschaltung der drei Atomkraftwerke Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C am 31. Dezember 2021 hat den Anteil der Atomkraft an der deutschen Stromerzeugung zwischen 2021 und 2022 in etwa halbiert (von vormals 12,4 % auf nunmehr 6,0 %). Die steigenden Preise für Erdgas und die reduzierten Liefermengen aus Russland senkten auch den Erdgasanteil an der deutschen Stromproduktion von 14,4 % im ersten Halbjahr 2021 auf 11,7 % der Gesamtproduktion im ersten Halbjahr 2022. Allerdings stieg der Anteil des Stroms aus Kohlekraftwerken von 27 % im ersten Halbjahr 2021 auf 31 % im ersten Halbjahr 2022 an, er machte damit ein knappes Drittel der deutschen Stromproduktion aus.
Inzwischen (Stand: September 2022) dürfte er noch weiter gestiegen sein. Zwischen Januar und Juni 2022 wurden 263,2 Milliarden Kilowattstunden ins deutsche Stromnetz eingespeist, ein Plus von 1,3 % gegenüber dem Vergleichszeitraum 2021. Von diesem Strom stammten 48,5 % aus erneuerbaren Energien, im ersten Halbjahr 2021 waren es noch 43,8 % gewesen.
Zuwachs bei den erneuerbaren Energien
Der Strom aus Windkraft trug im ersten Halbjahr 2022 mit über einem Viertel (25,7 %) zum deutschen Strommix bei. 2021 waren es noch 22,1 % gewesen. Der Anteil der Photovoltaik stieg von 9,4 % auf 11,2 %. Das hat neben dem leicht verbesserten Ausbau der erneuerbaren Energien vor allem etwas mit dem Wetter zu tun: Das erste Quartal 2021 war außergewöhnlich windarm, das erste Halbjahr 2022 wiederum sehr sonnig.
Stromimporte und -exporte
In der ersten Jahreshälfte 2022 sanken die deutschen Stromimporte um 9,1 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Dabei machte der Rückgang der Stromimporte aus Frankreich mit 58,9 % den größten Anteil aus. Erstmals wurde Deutschland gegenüber Frankreich im ersten Halbjahr 2022 zum Stromnettoexporteur. Dies gilt für den Zeitraum seit 1990. Damals wurden diese Daten erstmals erfasst. Diese Tendenz hatten das baden-württembergische ZSW (Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoffforschung) und der BDEW (Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft) bereits im Juli 2022 errechnet.
Die Hauptursache hierfür ist der marode Zustand der französischen Atomkraftwerke, von denen etliche vom Netz genommen werden mussten, weil ihre Kühlung nicht mehr ausreicht oder weil technische Probleme den Betrieb aktuell nicht erlauben. 70 % der französischen Stromproduktion stammen aus Atomkraft. Deutschland hat seine Stromexporte im betrachteten Zeitraum um 14,5 % erhöht und damit einen Exportüberschuss von 16,3 Milliarden Kilowattstunden erzielt.
Zweifel am europäischen Marktmodell für Strom
In den frühen 2000er Jahren hat die EU für die Liberalisierung des europäischen Strommarktes gesorgt. Das sollte durch gesteigerten Wettbewerb die Preise senken und funktionierte im Großen und Ganzen in den letzten 20 Jahren. Angesichts der neuen Herausforderungen – Energiewende und Ausfall der russischen Gaslieferungen – scheint das damals installierte System aber nicht mehr funktionieren. Energie ist inzwischen so knapp, dass ein liberaler Markt allein die Versorgungssicherheit zu vertretbaren Preisen nicht mehr garantieren kann.
Es drohen im Winter 2022/23 in ganz Europa Blackouts oder zumindest rollierende Abschaltungen – ein Szenario, das sich schon seit Jahrzehnten niemand mehr vorstellen konnte. Dabei sollte die damalige Liberalisierung eigentlich auch den Ausbau der erneuerbaren Energien fördern. Das hat zwar grundsätzlich auch funktioniert, nur hat dieser Ausbau bis zur Energiekrise 2022 nicht ausgereicht. Der inzwischen beeindruckende Anteil von Strom aus Wind- und Wasserkraft, Photovoltaik und Biomasse in Deutschland und Europa kann leider wegfallende Gaslieferungen aus Russland noch längst nicht kompensieren.
Nun hat Europa bei der Energie derzeit nicht nur eine Versorgungs-, sondern auch eine Preiskrise. Noch kommt überall Strom an, aber sein Preis steigt für die Verbraucher drastisch. Das liegt vor allem am Preisdesign mit der berüchtigten Merit-Order („Reihenfolge der Vorteilhaftigkeit“). Diese legt fest, dass stets zuerst die günstigsten Energieerzeuger den Markt beliefern, dann werden die teureren bei weiter bestehendem Bedarf nach und nach zugeschaltet. Der zuletzt zugeschaltete Erzeuger – das sogenannte „Grenzkraftwerk“ – mit der teuersten Erzeugung bestimmt den Gesamtmarktpreis.
Dieser Mechanismus sollte vor 20 Jahren die damals noch sehr teuren Erzeuger von erneuerbarer Energie fördern. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet: Heute stammt die günstigste Energie aus Atomkraftwerken, die man in Deutschland nicht mehr will, gefolgt von Wasserkraft, Windkraft, Photovoltaik und Biogas. Braunkohle, Steinkohle und Erdgas sind inzwischen die teuersten Energieträger, was vor allem an den explodierten Rohstoffkosten liegt. Das hat die EU-Kommission erkannt und hält die Merit-Order inzwischen für obsolet. Zu hoffen ist, dass deren Abschaffung sehr schnell gelingt.