Jetzt hat es die Bundesregierung schwarz auf weiß: Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Deutschland ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Zwar hätte Deutschland die Folgen der fehlenden Gasimporte aus Russland auch wegen des milden Winters einigermaßen gut überstanden, jedoch seien die wirtschaftlichen Belastungen so stark, dass die deutsche Wirtschaft langfristig stagnieren wird (Berliner-Zeitung: 17.05.23).
Finanzielle Bedingungen und schwache Nachfrage belasten deutsche Wirtschaft
Die finanziellen Bedingungen hätten sich durch die steigenden Zinsen und die Verwerfungen auf den internationalen Finanzmärkten deutlich verschlechtert, schreibt der IWF. „Die verschärften Finanzierungsbedingungen belasten die Wirtschaftstätigkeit, insbesondere in zinssensiblen Sektoren wie den Bau von Wohnimmobilien, während die Anpassung an höhere Energiepreise (im Vergleich zum Vorkriegsniveau) die Produktion in einigen energieintensiven Sektoren einschränkt.“
Eine Einschätzung, die Unternehmen bestätigen: Der Verband der chemischen Industrie (VCI) mahnt in seinem Bericht zur wirtschaftlichen Lage im ersten Quartal an, dass die rasante Talfahrt sich zum Jahresbeginn zwar abgeschwächt habe, eine kraftvolle Erholung aber nicht in Sicht sei. „Der Blick nach vorne bleibt sorgenvoll“, erklärt der VCI. „Strom und Gas sind immer noch deutlich teurer als vor der Krise und im internationalen Vergleich nicht wettbewerbsfähig.“ Die Lieferengpässe in der Industrie lösten sich zwar langsam auf. Aber das Neugeschäft sei verhalten und die Nachfrage nach chemischen Erzeugnissen bleibe weiterhin schwach. Die Chemieanlagen seien mit 78,6 Prozent weiterhin unter Normalauslastung gelaufen.
Chemieindustrie warnt vor Energiekrise und sinkendem BIP-Wachstum
VCI-Präsident Markus Steilemann sagte zur konjunkturellen Lage der Branche: „Zunehmend wird das ganze Ausmaß der Energiekrise sichtbar. Die Kosten seien immer noch doppelt so hoch wie in den Vorjahren. Deutschland sei als Industriestandort international immer weniger wettbewerbsfähig. Die Gefahr sei groß, dass in der energieintensiven Chemie Investitionen und Arbeitsplätze immer stärker ins Ausland abwanderten. Die Politik habe zwar den Ernst der Lage erkannt, „jetzt müssen aber auch Taten folgen“, sagte Steilemann. Der VCI rechnet für 2023 insgesamt mit einem Produktionsrückgang in der Chemieindustrie von fünf Prozent.
Angesichts der Vielzahl der ökonomischen Probleme geht der IWF davon aus, dass das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in diesem Jahr nahe null liegen wird. Ab dem kommenden Jahr werde das BIP-Wachstum voraussichtlich um ein bis zwei Prozent ansteigen, da die Auswirkungen der geldpolitischen Straffung allmählich nachlassen werden und sich die Wirtschaft an den Energieschock anpassen werde. Doch die weitergehenden Perspektiven für die deutsche Wirtschaft sind besonders trist: „Langfristig wird erwartet, dass das durchschnittliche BIP-Wachstum aufgrund des Gegenwinds der Bevölkerungsalterung wieder unter ein Prozent sinken wird“, schreibt der IWF.
Bundesregierung und IWF uneinig über Lockerung der Schuldenbremse
Einen Weg aus der Krise könnte die Bundesregierung gehen, indem sie öffentliche Ausgaben erhöhe und mehr Investitionen tätige. Doch dafür steht ein Hindernis im Weg: „Obwohl Deutschland über ausreichend fiskalischen Spielraum verfügt, um auf Schocks zu reagieren, bleibt aufgrund der verfassungsrechtlichen Schuldenbremse, die die jährliche strukturelle Neuverschuldung auf Bundesebene auf 0,35 Prozent des BIP begrenzt, kaum noch Spielraum“, schreibt der IWF. Die Bundesregierung sollte eine Überarbeitung der Regel in Betracht ziehen, um die Verwendung von Sondervermögen einzuschränken. Die Änderung der Schuldenbremse würde den erheblichen mittelfristigen Ausgabenbedarf Deutschlands realistischer machen.
Doch die Brücke, die der IWF der Bundesregierung gebaut hat, wurde gleich wieder eingerissen. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) erteilte der Forderung nach einer Lockerung der Schuldenbremse umgehend eine Absage: Der IWF habe die finanzpolitische Strategie des Bundesfinanzministeriums klar bestätigt, lautete das Fazit Lindners. Der richtige Kurs seien „finanzielle Zurückhaltung und angebotsseitige Maßnahmen“, sagte er dem Handelsblatt. „Die angeregte Lockerung der Schuldenbremse ist aber keine Option.“