Gefährliche Lieferengpässe bei Medikamenten

In Deutschland nehmen die Lieferengpässe bei Medikamenten dramatisch zu. Angesichts eines bevorstehenden Winters mit unterkühlten Räumen, verursacht durch die allgemeine Energiekrise, schlagen nun Ärzte und Apotheker Alarm. Es fehlen unter anderem Fiebersaft, weitere fiebersenkende Medikamente und sogar Krebstherapeutika. Der Deutsche Apothekerverband warnt: Die Ausfälle werden in jüngster Zeit immer schwerwiegender (ZEIT, 24.09.2022).


Mehr als 250 wichtige Medikamente fehlen

Laut Angaben des Deutschen Apothekerverbandes fehlen im September 2022 in Deutschland über 250 wichtige, stark nachgefragte Medikamente. Informationen dazu sind unter anderem beim Bundesamt für Arzneimittel und Medizin (BfArM) zu finden, das aktuell sogar 303 fehlende Medikamente listet. Hans-Peter Hubmann, Vizevorsitzender des Deutschen Apothekerverbandes, sagte gegen der Nachrichtenagentur dpa, dass die Lieferengpässe inzwischen zu einem bedeutenden Problem geworden seien. Sie sind nicht grundsätzlich neu, doch nun betreffen sie nicht mehr nur Nischenprodukte, sondern neben den fiebersenkenden Medikamenten auch gängige Mittel gegen Diabetes und Bluthochdruck. Am meisten Aufsehen erregt zurzeit der Mangel am Schmerzmittel Ibuprofen. Laut Hubmann treten Lieferengpässe normalerweise auf, wenn ein Produzent ausfällt, dies müsse einkalkuliert werden. Die Apotheken und Großabnehmer wie Kliniken wirken dem mit einer gewissen Bevorratung entgegen. Jedoch hätten sowohl die Mengen fehlender Medikamente als auch die Länge der Ausfallzeiten in jüngster Zeit dramatisch zugenommen. Vor fünf Jahren waren laut Hubmann weniger als die Hälfte der nachgefragten Produkte von Lieferengpässen betroffen.

Mehr als 250 wichtige Medikamente fehlen. Lieferengpässe bei günstigen Generika-Medikamenten. Herstellung lohnt sich nicht mehr
Mehr als 250 wichtige Medikamente fehlen. Lieferengpässe bei günstigen Generika-Medikamenten. Herstellung lohnt sich nicht mehr

Engpässe bei günstigen Generika-Medikamenten

Vor allem die günstigen Arzneimittel fehlen derzeit. Viele Pharmahersteller haben die Produktion der sogenannten Generika gestoppt, also also der preiswerten Arzneimittel, deren Patentschutz abgelaufen ist. Die Hintergründe sind wohl wirtschaftlicher Natur. Warum die Fiebersäfte für Kinder nur noch eingeschränkt lieferbar sind, kann das BfArM recht genau deuten. Die Mittel mit den Wirkstoffen Ibuprofen und Paracetamol werden wegen abgerissener Lieferketten nur noch ungenügend verteilt, außerdem hat sich ein Marktteilnehmer zurückgezogen. Zudem sei im Jahr 2022 der Bedarf an diesen Arzneimitteln überproportional angestiegen. Ausweichmittel mit ähnlichen Wirkstoffen gibt es aber nicht. Dasselbe trifft auf das Brustkrebsmittel Tamoxifen zu, das in den Monaten April und Mai 2022 absolute Mangelware war. Dies führte laut Verbandsvizechef Hubmann zu erheblichen gesundheitlichen Risiken bei den betroffenen Frauen. Die Behörden hätte auf die Mangellage mit der Empfehlung reagiert, kleinere Packungen an die Patientinnen zu vergeben.


Herstellung lohnt sich nicht mehr

Es gibt zwar vielfältige Ursachen für die Engpässe, doch wirtschaftliche Gründe scheinen zu überwiegen. Sehr viele Produzenten stellen keinen Fiebersaft mehr her, weil sie ihn zu Festbeträgen abgeben müssen und damit gestiegene Kosten nicht auf den Verkaufspreis der Medikamente umlegen können. Von den Krankenkassen geht wohl entsprechender Druck aus, die Preise nicht zu erhöhen. Inzwischen beliefert ein einziger Hersteller die deutschen Apotheken mit Fiebersaft, der die angefragte Menge nicht schultern kann. Warnungen vor so einer Situation kamen schon zeitig vom Branchenverband Pro Generika. Dieser hatte bereits im Frühjahr 2022 eine Marktverengung bei Paracetamol für die Fiebersenkung prognostiziert. Die Situation hat sich indes über etwa ein Jahrzehnt angedeutet. Während aktuell ein einziger Hersteller Deutschland mit Paracetamol versorgt, waren es im Jahr 2010 noch elf. In diesem reichlichen Jahrzehnt sind aber die Festbeträge laut Branchenverband nicht gestiegen. Angesichts höherer Preise für Wirkstoffe, Logistik und inzwischen auch Energie mussten viele Hersteller diese Produktion aufgeben. Allerdings ist das Ursachenbündel für den Mangel insgesamt noch vielfältiger. Experten sehen diese Gründe:

  • Kostenprobleme der Hersteller
  • erhöhte Nachfrage
  • unzureichende Produktionskapazitäten
  • Mängel beim Good Manufacturing Practice
  • Änderung des Herstellungsverfahrens
  • Probleme bei der Herstellung, der Chargenprüfung und der Endfreigabe
  • Lieferkettenprobleme

Experten verweisen unter anderem darauf, dass die lange als Nonplusultra gepriesene Just-in-Time-Produktion nun zum Pferdfuß der Versorgung werde. Da die Unternehmen kaum noch auf eine größere Lagerhaltung eingerichtet seien, könnten sie auch vorübergehende Mängel kaum noch ausgleichen. Diese schlagen dann sofort auf die Versorgung durch.


Gestörte Lieferketten durch Corona

Einen Teil der Probleme verursachen die immer noch durch Corona gestörten Lieferketten. Viele wichtige Wirkstoffe kommen aus China und Indien. Besonders China hat mit seiner Null-Covid-Politik die Weltwirtschaft ins Wanken gebracht, weil das Land Fabriken schließen und ganze Millionenstädte unter Quasi-Quarantäne stellen ließ. Bei den immer noch üblichen Lockdowns in China dürfen Frachter auch die dortigen Häfen nicht mehr anlaufen, um bereits produzierte Vorprodukte wenigstens abzuholen. Der Experte Hubmann macht daher eine klare Forderung auf: Die Wirkstoffproduktion müsse wieder nach Europa verlagert werden. Von der Politik verlangt er, hierfür die Voraussetzungen zu schaffen.

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