Die Gaspipeline Nord Stream 1 wird aktuell gewartet, für den Weiterbetrieb frühestens ab dem 21. Juli benötigt sie eine Turbine aus Kanada. Diese soll trotz der laufenden Sanktionen gegen Russland geliefert werden, doch gestern meldete Gazprom Zweifel an, ob das gelingen werde. Die Anzeichen verdichten sich, dass Nordstream 1 nicht wieder in Betrieb gehen könnte und damit die befürchtete Gasmangellage in Deutschland eintritt. Dies würde die dritte Notfallstufe Gas auslösen. In diesem Fall sollen zuerst Industriebetriebe von der Gasversorgung getrennt werden, während Krankenhäuser und private Verbraucher die höchste Priorität erhalten und so lange Gas erhalten, wie dies möglich ist.
Auf Druck der deutschen Industrie äußerte nun Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Grüne) Zweifel an dieser Reihenfolge. Man solle nicht einfach so alle auf Gas angewiesenen Industrien abschalten, weil dies eine schwere Rezession auslösen würde. Dem widerspricht die SPD-Vorsitzende Saskia Esken. Nach ihrer Auffassung soll es bei der Priorisierung der privaten Verbraucher und Kliniken bleiben (BR24, 13.07.2022).
Aufflammende Diskussion um die dritte Notfallstufe Gas
Mit heutigem Stand ist nicht absehbar, ob die befürchtete Gasmangellage eintritt. Die Diskussion um die Gasverteilung bei Inkrafttreten der dritten Notfallstufe Gas nimmt jedoch seit etwa drei Tagen (dem Wartungsbeginn von Nord Stream 1) heftig an Fahrt auf. Die SPD-Chefin Esken hat nun klargestellt, wo sie und ihre Partei die Prioritäten setzen: Die privaten Verbraucher und die sozialen Einrichtungen müssten eindeutig Vorrang haben. Dies sagte Esken gegenüber der Rheinischen Post. Zusätzlich forderte sie einen Schutzschirm für diejenigen Verbraucher, die möglicherweise die hohen Gaspreise nicht mehr bezahlen könnten.
Gestern hatte der Chef der Bundesnetzagentur Klaus Müller gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland von einer Verdreifachung der Preise spätestens ab 2023 gesprochen. An den Handelsbörsen, wo der Großeinkauf der Versorger stattfindet, habe sich der Preis inzwischen versiebenfacht. Davon werde ein beträchtlicher Teil auch bei den privaten Haushalten ankommen, so Müller. Daraus leitet Esken den nötigen Schutzschirm für Verbraucher ab. Sie ist der Auffassung, dass Wohnungen warm und Energie insgesamt bezahlbar bleiben müssten.
Konträre Auffassung von Habeck
Robert Habeck ist in den letzten Tagen und Wochen zur Auffassung gelangt, dass Privathaushalte ebenfalls einen Anteil leisten müssten. Vorausgegangen waren dem scharfe Warnungen aus der deutschen Industrie. So hatte der Chef des VCI (Verband der chemischen Industrie) Christian Kullmann der Süddeutschen Zeitung gesagt, es nutze den privaten Verbrauchern nichts, wenn sie noch Gas erhielten, das sie aufgrund von Arbeitslosigkeit nicht mehr bezahlen könnten. Und Massenarbeitslosigkeit sei eine unweigerliche Folge, wenn man der deutschen Industrie das Gas abdrehe.
Die chemische Industrie, deren Verband Kullmann vorsteht, gehört zu den größten Gasverbrauchern in Deutschland. Habeck hat diese Warnungen aufgenommen und nun offenbar seine Meinung zur Priorisierung in der dritten Notfallstufe Gas geändert. Bei seinem gestrigen Besuch in Wien, wo er zu Gesprächen mit dem Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen und dem Vizekanzler Werner Kogler weilte, stellte er erstmals die Priorisierung der Privathaushalte ganz klar infrage: Aufgrund der massiven Auswirkungen einer Gasmangellage auf die gesamte Gesellschaft inklusive der Schwerindustrie müssten nun auch die Verbraucher hren Anteil leisten. Immerhin wären sie von einem Zusammenbruch der industriellen Produktion mindestens ebenso betroffen wie von kalten Wohnungen. Absehbar dürfte sich diese Diskussion in den kommenden Tagen noch mehr verschärfen.
Tritt die Gasmangellage zwingend ein?
Nicht unbedingt. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Prof. Dr. Claudia Kemfert, die derzeit am DIW die Abteilung Energie, Umwelt und Verkehr leitet, hält eine Gasmangellage für vermeidbar. Diese müsse nicht einmal eintreten, wenn Russland ab sofort seine Gaslieferungen nach Deutschland komplett einstellen sollte.
Gegenüber dpa sagte Kemfert, dass man für die Beurteilung der Situation mehrere Faktoren beachten müsse, so den Füllstand der Speicher, die Gaslieferbeziehungen zu anderen Ländern und die Möglichkeiten von Einsparungen. Sollte sich bei allen drei Aspekten ein eher positives Bild ergeben, sei ein sofortiger Verzicht auf russisches Gas ohne große Einbußen denkbar. Kemfert äußerte sich in dieser Hinsicht optimistisch. Der DIW-Präsident Marcel Fratzscher wiederum verwies darauf, dass allein die gestiegenen Gaspreise schon jetzt eine Notsituation für viele Haushalte geschaffen hätten. Die Krise sei schon da, so Fratzscher im ARD-Morgenmagazin. (zdf, 13.06.2022)
Gasknappheit ab Oktober
Bertram Brossardt verwies als Geschäftsführer der bayerischen Wirtschaftsvereinigung auf den möglichen Termin für eine Gasmangellage. Diese dürfte im Oktober eintreten. Bis November wolle Deutschland noch Gas einspeichern, doch im Oktober wird es kalt. Dann werden die Verbraucher den Gasmangel zum ersten Mal richtig spüren, so Brossardt.