Explodierende Energiekosten: Wirtschaftfachleute schlagen Alarm

Die deutsche Wirtschaft leidet extrem unter den explodierenden Energiekosten. Inzwischen gehen beunruhigende Meldungen von Insolvenzen um, die robuste Traditionsunternehmen wie Hakle (Hygieneartikel) und Görtz (Schuhe) treffen. Verschiedenste Wirtschaftszweige ordnen Produktionsstopps an. Ein Ende der Energiekrise ist bislang nicht in Sicht (focus, 14.09.2022).


Produktionsstopps in der Industrie

Einzelne Industriebetriebe haben inzwischen wegen der Energiekosten Produktionsstopps verhängt oder ihre Produktion drastisch heruntergefahren. Vor allem der Mittelstand ächzt, aber auch große Konzerne sind betroffen wie der Stahlhersteller ArcelorMittal. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Grüne) nannte die Entwicklungen zuletzt „alarmierend“. BDI-Präsident Siegfried Russwurm verweist auf fundamentale Probleme für den Industriestandort Deutschland wegen der extrem steigenden Energiepreise. Das dritte Entlastungspaket genüge nicht, so der Fachmann. Es helfe den Firmen zu wenig.

Die deutsche Wirtschaft leidet extrem unter den explodierenden Energiekosten. Inzwischen gehen beunruhigende Meldungen von Insolvenzen um.
Explodierende Energiekosten: Wirtschaftfachleute schlagen Alarm

In einer aktuellen Umfrage ermittelte der BDI eine bedenkliche Stimmung: Demnach fühlen sich 90 % aller Unternehmen durch die stark gestiegenen Energie- und Rohstoffpreise stark oder gar existenziell herausgefordert. Im Februar 2022 hatte dieser Wert bei 23 % gelegen. Das liegt auch an Meldungen von Schwergewichten der Industrie. ArcelorMittal, immerhin der weltgrößte Stahlproduzent, muss in Deutschland zwei seiner Anlagen (Bremen und Hamburg) komplett herunterfahren. An anderen Standorten wurde Kurzarbeit angeordnet. Die Stahlproduktion benötigt auch viel Gas, das Unternehmen wird die Gasumlage ab Oktober nicht stemmen können.

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CEO Reiner Blaschek teilte mit, dass angesichts der Kostenexplosion eine wettbewerbsfähige Produktion hierzulande vorerst nicht mehr möglich sei. Davon sind auch Zink- und Aluminiumhütten sowie die Papier-, Chemie- und Zementindustrie betroffen. Sie leiden unter den gestiegenen Strom- und Gaspreisen gleichermaßen. Bloomberg hat ermittelt, dass in Europa die ersten Aluminiumhütten unmittelbar vor der Schließung stehen. Der europäische Champion Aluminium Dunkerque Industries France wird seine Produktion ab dem 19. September um 22 % drosseln. Die europäische Aluminiumproduktion ist inzwischen auf das (sehr niedrige) Niveau der 1970er Jahre zurückgefallen. Ihre Manager warnen: Die europäische Primär-Aluminium-Industrie könnte komplett verschwinden. Damit verlöre Europa einen wichtigen Teil seiner industriellen Souveränität.

Bäcker machen das Licht aus

Der Kosten-Tsunami überrollt derzeit auch Handwerksbetriebe wie die energieintensiven Bäckereien. Hier werden inzwischen viele Insolvenzen gemeldet, weil die Bäcker ihre Energiepreise nicht auf die Waren umlegen können, ohne massiv Kundschaft zu verlieren.

Aus Protest haben am 8. September Bäcker in Norddeutschland ihr Licht ausgeknipst. Die Verkaufsräume in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen und Hamburg blieben dunkel, verkauft wurde bei Kerzenlicht. Die Innung stellte die Aktion unter das Motto: „Heute geht uns das Licht aus – morgen der Ofen?“ Deutschlandweit hat der Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks seine Aktion „Alarmstufe Brot“ gestartet. Sein Hauptgeschäftsführer Daniel Schneider beschreibt die Lage der Bäcker als „äußerst angespannt“. Immerhin laufen ~70 % aller Backöfen mit Gas. Sie können nicht schnell auf andere Energieträger umgerüstet werden. Das wäre auch viel zu teuer.

Weitere Kostensteigerungen in der Branche betreffen Rohstoffe wie Butter, Zucker, Mehl und Milch sowie den angehobenen Mindestlohn. Die Aussagen des Wirtschaftsministers Habeck in der Maischberger-Talkshow am 6. September bezeichnet Schneider als „erschreckend“. Der Politiker hatte lapidar erklärt, dass manche Betriebe wie die Bäckereien bei zu hohen Kosten eben einfach aufhören würden zu verkaufen. Das müsse nicht in die Insolvenz führen. Diese fachlich falsche Aussage wurde inzwischen von vielen Seiten heftig kritisiert.


Drittes Entlastungspaket entlastet zu wenig

Das dritte Entlastungspaket der Regierung, immerhin 65 Milliarden Euro schwer, hilft nach Ansicht vieler KMU nicht ausreichend. Neben den Bäckern sind auch Galvaniseure, Fleischer, Textilreiniger, Brauereien, Dachziegelwerke, Porzellanhersteller und Kfz-Werkstätten betroffen, wie der ZDH (Zentralverband des Deutschen Handwerks) in dieser Woche mitteilte. Diese Branchen benötigen alle sehr viel Strom und teilweise auch Gas.

Hinzu kommen bei etlichen Betrieben die inzwischen seit zwei Jahren andauernden Belastungen durch die Coronapandemie. Es könnten auch gesunde Traditionsunternehmen massenhaft in die Insolvenz rutschen. Ähnlich schwer wie die Bäcker sind die Bierbrauer betroffen, bei denen jetzt Produktionsstopps drohen oder schon angeordnet wurden. Ihr Problem ist derzeit die fehlende Kohlensäure. Damit gibt es kein Bier, aber auch keine alkoholfreien Getränke mehr, denn die meisten von ihnen werden mit Kohlensäure versetzt. Exemplarisch ist dieser Mangel, weil er die Kettenreaktion in der Industrie aufzeigt: Kohlensäure stammt nämlich aus der Düngemittelproduktion, die es als Restprodukt an die Brauereien weitergibt. Die Düngemittelproduzenten haben wiederum wegen der Gaskosten stark ihre Produktion gedrosselt. Nun fehlt ihr CO₂. Wegen solcher Verquickungen warnen Wirtschaftsfachleute vor einem Dominoeffekt in der gesamten europäischen Wirtschaft. Fazit: Die Regierung muss bei den Entlastungen nachbessern.

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