In Deutschland zeichnet sich ein leises, aber bedeutendes Sterben der Industrie ab. 2023 hat ein massives Unternehmenssterben stattgefunden. Doch nur ein kleiner Teil dieser Schließungen resultiert aus Insolvenzen. Die meisten Firmen geben still und leise auf. Verantwortlich ist ein „toxischer Cocktail“ aus verschiedenen wirtschaftlichen Problemen. Dieser Schwund beeinträchtigt den Kern der Volkswirtschaft erheblich (welt: 28.05.24).
Industrie in der Krise: 176.000 Firmen verschwinden laut Schließungsreport
Der aktuelle Schließungsreport von Creditreform und dem Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) dokumentiert das fortschreitende Verschwinden der Industrie. Oft bleibt dies unbemerkt. Laut der Untersuchung verschwanden 2023 rund 176.000 Unternehmen vom Markt. Nur elf Prozent dieser Schließungen erfolgten aufgrund von Insolvenzen. Der Großteil hat still und leise aufgegeben, und viele dieser Betriebe stammen aus der Industrie. Auffällig werden Schließungen vor allem in den Innenstädten, wenn der Herrenausstatter, der Lieblingsfriseur oder das italienische Restaurant schließt. „Verwaiste Ladenlokale und leere Schaufenster treffen die Menschen wirtschaftlich und emotional“, erläutert Patrick-Ludwig Hantzsch, Leiter Wirtschaftsforschung bei Creditreform.
Noch schwerwiegender sind jedoch die Schließungen von Baufirmen, Chemieunternehmen, Technologiedienstleistern, Maschinenbauern, Fahrzeugherstellern und Elektrotechnikbetrieben, deren Verschwinden kaum bemerkt wird. „Die Schließungen in der Industrie treffen den Kern unserer Volkswirtschaft“, so Hantzsch, der die Entwicklung als alarmierend beschreibt: „Die industrielle Basis schwindet.“ Gründe für Schließungen sind wirtschaftliche Schwierigkeiten, gescheiterte Unternehmensnachfolgen oder persönliche Gründe wie Tod, Alter oder Krankheit. Besonders wirtschaftliche Probleme treiben die aktuelle Entwicklung an. Der Bericht nennt hohe Energie- und Investitionskosten, unterbrochene Lieferketten, Personalmangel und politische Unsicherheiten als Ursachen.
Kleine und mittelgroße Unternehmen besonders betroffen
„Für die Wirtschaft ist das ein toxischer Cocktail“, betont Hantzsch. Besonders betroffen sind kleine und mittelgroße Betriebe. Während große Unternehmen in den Diskussionen um eine mögliche Deindustrialisierung im Vordergrund stehen, sterben viele kleinere Betriebe und hochspezialisierte Unternehmungen leise, jedoch mit ebenso gravierenden Folgen.
Im verarbeitenden Gewerbe steigen die Schließungszahlen besonders stark. 11.000 Fälle bedeuten ein Plus von 8,7 Prozent und den höchsten Stand seit 2004. Besonders forschungsintensive Wirtschaftszweige sind betroffen. „Die Zahl der Schließungen in forschungsintensiven Wirtschaftszweigen steigt mit plus 12,3 Prozent deutlich stärker an als in weniger forschungsintensiven Bereichen“, heißt es in der Studie. Betroffen sind vor allem die Chemie- und Pharmaindustrie, der Maschinenbau und technologieintensive Dienstleister. „Der Effekt ist stark, weil den Schließungen stagnierende Gründungen gegenüberstehen“, erklärt Sandra Gottschalk, Wissenschaftlerin im ZEW-Forschungsbereich Innovationsökonomik und Unternehmensdynamik. „Wenn der Bestand nicht nachwächst, steigt die Zahl der Schließungen überproportional.“
Sinkende Gründungszahlen und Investitionen
Gottschalk verweist auf das Gründungspanel des ZEW und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Demnach ging die Zahl der Unternehmensgründungen 2022 um 13 Prozent zurück, im verarbeitenden Gewerbe sogar um 16 Prozent.
Dies hat auch Auswirkungen auf Investitionen und Arbeitsplätze. Während 2017 durch neu gegründete Firmen im verarbeitenden Gewerbe noch 65.000 vollzeitäquivalente Beschäftigtenstellen entstanden, waren es zuletzt nur noch 47.000. Die Investitionsausgaben sanken in diesem Zeitraum von 1,3 Milliarden auf 873 Millionen Euro. Eine hohe Schließungsdynamik zeigt sich auch in der Bau- und Immobilienwirtschaft. Während es im Baugewerbe ein Plus von 2,4 Prozent auf rund 20.000 Betriebe gibt, liegt die Aussteigerrate im Grundstücks- und Wohnungswesen bei 14 Prozent. „Der Immobiliensektor steckt in der Krise“, heißt es in der Studie. Seit 2020 steigen die Zahlen stark – sowohl bei freiwilligen Schließungen als auch bei Insolvenzen.
Besserung bei Händlern und konsumnahen Dienstleistern
Positiver sieht es bei Händlern und konsumnahen Dienstleistern aus. Zwar verzeichnet diese Gruppe weiterhin die meisten Schließungen, aber die Zahlen sind rückläufig. Im Handel verschwanden 2023 rund 37.000 Unternehmen, bei konsumnahen Dienstleistern wie Gastgewerbe, Krankenhäuser, Arztpraxen, Friseure und Reinigungen waren es etwa 51.000 Betriebe. Beide Bereiche verzeichneten einen Rückgang von jeweils knapp einem Prozent im Vergleich zum Vorjahr. „Das Sorgenkind ist die Industrie“, resümiert Hantzsch von Creditreform.
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