Deutschlands Chemieindustrie in der Krise

Thomas Kadowsky ist 58 Jahre alt und war davon ausgegangen, bis zur Rente in der Kunstharzfabrik des Allnex-Konzerns in Hamburg zu arbeiten. Mit der Ankündigung des Arbeitgebers im März hat sich das jedoch erledigt: Das Werk in Wandsbek im Nordosten der Hansestadt wird im kommenden Juni geschlossen – 130 Beschäftigte verlieren ihren Job. Die Chemieindustrie in Deutschlandf befindet sich in einer ernsten Krise.


Chemieindustrie in Deutschland in der Krise – Allnex schließt Chemiefabrik nach 90 Jahren

„Ich war schockiert“, sagt Kadowsky. Seit über dreißig Jahren arbeitet er in Wandsbek als Teamleiter. Die Chemiefabrik gibt es seit 90 Jahren. Allnex begründet den Schritt mit „den jüngsten Entwicklungen der Energiepreise, der Rohstoffkosten und der Inflation“, welche die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts in Europa beeinträchtige.

Chemieindustrie - Stellenabbau und hohe Energiepreise bedrohen den Sektor. Verliert Deutschland eine produktive Branche?
Chemieindustrie – Stellenabbau und hohe Energiepreise bedrohen den Sektor. Verliert Deutschland eine produktive Branche?

Die Chemieindustrie ist ein Pfeiler der deutschen Wirtschaft, aber auch hochgradig energieintensiv. Infolge der starken Preissteigerungen am Energiemarkt steckt die gesamte Branche in der Krise. „Das Haus brennt“, warnt der Präsident des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI), Markus Steilemann, der in Deutschland rund 1900 Unternehmen vertritt.

Im ersten Halbjahr 2023 ist deren Umsatz um 11,5 Prozent zurückgegangen. Für das Gesamtjahr befürchtet die Branche einen Einbruch um 14 Prozent. Viele Unternehmen – zu 92 Prozent handelt es sich um kleine und mittlere Betriebe – streichen Arbeitsplätze. Die Zahl der Beschäftigten lag im Mai 0,8 Prozent niedriger als im Vorjahr.

Chemieindustrie – Stellenabbau und hohe Energiepreise bedrohen den Sektor

Insgesamt beschäftigt Chemieindustrie 466.000 Menschen und steht für fünf Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes. Darüber hinaus ist sie von großer Bedeutung für viele weitere Sektoren, denn sie liefert Materialien für Autohersteller, Landwirtschaft oder das Baugewerbe.

Die Krise erfasst auch die Branchenriesen. BASF – größter Chemiekonzern weltweit – kündigte im Februar den Abbau von 3300 Stellen und die Schließung mehrerer Anlagen am Stammsitz in Ludwigshafen an. Vergangene Woche meldete der Konzern einen Gewinneinbruch im zweiten Quartal um 76 Prozent.

Deutschland und besonders die energieintensive Chemieindustrie haben jahrelang vom billigen Gas aus Russland profitiert. Von den enormen Preissteigerungen im vergangenen Jahr hat sich der Energiemarkt mittlerweile zwar erholt. Die Preise sind aber weiterhin hoch – nach Angaben des VCI bezahlen Unternehmen in Deutschland für Energie das Fünffache der Preise in den USA und das Zwei- bis Dreifache der Preise in China.


Massive Subventionen locken Unternehmen ins Ausland

Hinzu kommen massive Subventionen, die Unternehmen derzeit etwa in den USA winken, wenn sie ihre Produktion nach dort verlegen. In Deutschland hat das Investitionsvolumen in der Chemieindustrie nach Angaben des Verbandes um 24 Prozent abgenommen, jedes vierte Unternehmen erwägt Produktionsverlagerungen.

In Hamburg-Wandsbek weht die rote Flagge der Chemie-Gewerkschaft IGBCE über dem Allnex-Werk mit seinen Betongebäuden und zahllosen grauen Rohrleitungen. „Es ist total unlogisch, dieses Werk zu schließen“, sagt Betriebsratschef Christian Wolf. „Wir sind sehr produktiv und sehr lukrativ.“

Bei der Forderung nach politischen Maßnahmen zur Stützung der Branche sind sich Gewerkschaften und Unternehmen einig. VCI-Präsident Steilemann fordert einen „zeitlich begrenzten Preisdeckel“. Das wäre eine „Brücke in die Zukunft“. So argumentiert auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), der mit seinen Plänen für einen Industriestrompreis ein ähnliches Subventionskonzept für energieintensive und zugleich wirtschaftlich bedeutsame Industriezweige vorgeschlagen hat. Insbesondere der Koalitionspartner FDP lehnt das Vorhaben jedoch ab.

Streit um Industriestrompreis: Verliert Deutschland eine produktive Branche?

Auch einige Experten sehen den Industriestrompreis kritisch. „Wir sollten das Geld nicht in die energieintensive Industrie stecken, sie wird auf Dauer ohnehin verschwinden“, sagte etwa Moritz Schularick, Präsident des Kieler Wirtschaftsinstituts, der „Rheinischen Post“. Industrie und Gewerkschaften wirft er vor, nicht genug auf Veränderung und Innovation zu setzen.

Deutschland würde eine „äußerst produktiver Branche“ verlieren, warnt hingegen Timo Wollmershäuser vom Münchener Ifo-Institut. Die Chemieindustrie bot bislang außerdem viele gut bezahlte Jobs. „Ich würde nicht sagen, dass es schwierig wird, einen Job zu finden“, sagt der 26-jährige Torben Boldt, Mechaniker im Hamburger Allnex-Werk. „Aber es wird schwierig, einen Job zu finden, zu diesen Konditionen und Gehalt.“

AFP + Blackout-News

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