Deutsche Automobilindustrie wandert zunehmend ins Ausland ab

Experten sehen gravierende Schwächen des Standorts Deutschland als Ursache dafür, dass die deutsche Automobilindustrie zwei Millionen Fahrzeuge weniger produziert als möglich wäre. Hersteller machen die mangelnden Chips für die Situation verantwortlich, doch es gibt durchaus noch weitere Faktoren, die dazu beitragen (Handelsblatt: 31.03.23).


Deutschland verliert an Bedeutung als Autostandort: Produktion um 36 % zurückgegangen

Die klassische Fahrzeugproduktion in Deutschland ist innerhalb von zehn Jahren um mehr als 36 Prozent zurückgegangen, was dazu führt, dass Deutschland als Autostandort zunehmend an Bedeutung verliert. Während die Autokonzerne im Jahr 2012 noch rund 5,6 Millionen Pkw und Kleintransporter produzierten, waren es im Jahr 2022 nur noch 3,6 Millionen Einheiten. Dies geht aus Zahlen des Informationsdienstes „Marklines“ hervor, die dem Handelsblatt exklusiv vorliegen.

Deutsche Automobilindustrie verlagert Produktion zunehmend ins Ausland und produzieren in Deutschland keine Kleinstwagen mehr
Deutsche Automobilindustrie verlagert Produktion zunehmend ins Ausland und produzieren in Deutschland keine Kleinstwagen mehr
Bild: Vyacheslav Bukharov, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Gleichzeitig erhöhte sich die Auslandsproduktion von Volkswagen, BMW, Opel und Mercedes-Benz von 8,6 auf über zehn Millionen Fahrzeuge im gleichen Zeitraum. Branchenkenner und Ökonomen führen den Rückgang in Deutschland auf hohe Löhne, Steuern und Energiepreise zurück. Experten rechnen daher damit, dass es in Zukunft weitere Verlagerungen geben wird.


Deutsche Automobilindustrie verlagert Produktion zunehmend ins Ausland

Der Elektroauto-Boom verschärft diesen Trend zusätzlich. VW plant beispielsweise, den ID.2all, den ersten Stromer des Konzerns für weniger als 25.000 Euro, nicht wie ursprünglich geplant in Emden, sondern ab 2025 in Spanien zu bauen. Ford plant, sein Werk in Saarlouis mittelfristig abzustoßen. Mercedes wird bald eine neue Fahrzeugklasse ausschließlich in China produzieren und eine Fabrik für E-Transporter im polnischen Jawor errichten.

Stefan Bratzel, Direktor des Center of Automotive Management (CAM), bezeichnet die Situation als „Drama“, während das Ifo-Institut bereits eine Deindustrialisierung im deutschen Autostandort sieht. Obwohl die Chipversorgung wieder besser gesichert ist, prognostiziert die Marktanalysefirma „Inovev“, dass die deutsche Autoproduktion mindestens bis 2027 unter 4,2 Millionen Einheiten bleiben wird, obwohl es dieses Jahr eine Zunahme geben wird.

Verband der Deutschen Automobilindustrie fordert Offensive für den Industriestandort Deutschland

Auch der Verband der Deutschen Automobilindustrie (VDA) zeigt sich besorgt über die Entwicklung. Laut dem Lobbyverein der Leitbranche haben die Krisen der vergangenen Jahre die Schwächen des Industriestandorts Deutschland schonungslos offengelegt. Der VDA betont, dass jetzt eine Offensive für den Industriestandort Deutschland erforderlich ist. Ohne ein ambitioniertes Programm für Wettbewerbsfähigkeit und Standort droht Deutschland global weiteren Boden zu verlieren.

In den vergangenen Jahren war der starke Rückgang der Inlandsproduktion vor allem auf Einschränkungen infolge der Coronapandemie und Engpässe bei Halbleitern und Kabelbäumen zurückzuführen. Jetzt treten jedoch immer stärker auch die Nachteile bei den Kosten in den Vordergrund, insbesondere bei Energie und dem Faktor Arbeit.


Kostenfaktor Arbeit: Warum Automobilhersteller in Deutschland keine Kleinstwagen mehr produzieren

Die Kosten für eine Arbeitsstunde in der Autoindustrie sind in Deutschland verglichen mit anderen Ländern sehr hoch. Während eine Stunde Arbeit in der Autoindustrie in Deutschland insgesamt 59 Euro kostet, sind es in den USA etwa 43 Euro, in Spanien 28 Euro und in Ungarn sowie in Polen nur 13 Euro. Dies ist ein entscheidender Faktor für den Rückgang der Produktion von kleineren Modellen in Deutschland. Seit 2020 werden keine Mini- oder Kleinstwagen mehr in der Bundesrepublik hergestellt. Laut Daten des Verbands der Deutschen Automobilindustrie (VDA) ist die Produktion von Kleinwagen und Großraum-Vans seit 2012 um jeweils fast 90 Prozent gesunken. Ein Beispiel hierfür ist der Corsa von Opel, diesen hat der Automobilhersteller vor vier Jahren aus Eisenach abgezogen und lässt ihn seither in Spanien gefertigen.

Deutschland verliert Produktionskapazitäten für Mini-Vans und Kompaktwagen: VW-Werk in Wolfsburg nur zu 50 % ausgelastet

Die Produktionskapazitäten für Mini-Vans in Deutschland sind auf ein Viertel des früheren Niveaus gesunken. Mit der bevorstehenden Einstellung der B-Klasse von Mercedes Mitte des Jahrzehnts dürfte die Zahl weiter sinken. In der Kompakt- und Oberklasse hat sich das Produktionsvolumen in der vergangenen Dekade fast halbiert. Die Produktion des VW Golf allein ist in diesem Zeitraum um fast 300.000 Stück zurückgegangen und betrug zuletzt nur noch 219.000 Fahrzeuge.

Das VW-Stammwerk in Wolfsburg hatte im letzten Jahr nur eine Auslastung von etwas mehr als 50 %. Eine Ursache dafür ist, dass der Kompakt-SUV T-Roc, der mittlerweile viele ehemalige Golf-Kunden anspricht, in Portugal produziert wird.

Immer mehr Massenmodelle werden nicht mehr nur im Ausland produziert, um den lokalen Bedarf zu decken. BMW produziert beispielsweise das Elektro-SUV iX3 seit 2020 ausschließlich in China und exportiert es von dort gezielt zurück nach Europa. Mercedes geht ähnlich vor. Die kleinen und kompakten Smart-Modelle werden von Geely in Fernost produziert und weltweit verschifft.

Zuletzt aktualisiert am September 25, 2024 um 11:30 . Wir weisen darauf hin, dass sich hier angezeigte Preise inzwischen geändert haben können. Alle Angaben ohne Gewähr.
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